Strategisch-manipulatives Denken scheint seine Sache nicht zu sein. Ein Gespräch mit Ricardo Fernando ist wie eine seiner Choreografien, immerzu strömen die Emotionen ungefiltert heraus aus dem Leib: Enthusiasmus – sehr viel Enthusiasmus. Das staunende Innehalten über eine überraschende Frage, einen ›Move‹ des Gegenübers. Selbstkarikierender Spott, und oft auch: komische Verzweiflung. Mit Grund. Denn zu Gram und Verzagtheit hat derzeit kein anderer nordrhein-westfälischer Tanzchef so viel Anlass wie der Brasilianer. »Es gibt Tage, wo ich sage: Das kann doch nicht wahr sein! Seit sieben Jahren die gleiche Geschichte!«
Seit Jahren schon steht das Theater Hagen vor dem drohenden Aus. Der Nothaushalt der Stadt fordert jährlich neue Einsparungen von den Künstlern, mittlerweile ist der Bühnen-Etat um Millionenbeträge geschrumpft. Dabei trifft Hagen das typische Betriebsproblem der darstellenden Künste besonders hart: Der tarifvertraglich geregelte Theaterapparat verschlingt das Zigfache von dem, was für die Kunst übrig bleibt – die Struktur überwuchert die Kunst. So beginnt jede Spielzeit beim Ballett Hagen mit neuen Apokalypse-Meldungen. »Das kostet so viel Kraft – nicht jeder Tänzer hat den Optimismus, das auszuhalten.« Gute Tänzer sehen in Hagen keine Perspektive. Sie ziehen weiter, sobald sich anderswo ein Engagement auftut. Und über jeden Ausstatter, jeden Choreografen, den Fernando als Gast ans Haus holen will, muss er langwierige Diskussionen führen.
DIE ZUVERSICHT DES BALLETTS
Vielleicht wegen dieses Dauer-Desasters, vielleicht aber auch, weil es einfach seinem Charakter entspricht, inszeniert Ricardo Fernando dagegen die Zuversicht auf seiner Ballettbühne. Detailverliebter, luftig-schneller Tanz jeder Stilrichtung: Ballettexerzitien und Jazz-Revuen. Pantomimen, Romanzen mit Requisit, auch mal Spitzentanz. Und in seiner neuen Choreografie: Reminiszenzen an den Ausdruckstanz. »Der Schrank der Georgi«, so der wenig verlockende Titel der Uraufführung. Dahinter verbirgt sich ein Projekt des Tanzfonds Erbe, der derzeit deutschlandweit dafür sorgt, dass sich Theater und freischaffende Choreografen als Archäologen betätigen und Teile der verschütt gegangenen Tanzgeschichte aus dem 20. Jahrhundert ausbuddeln. Manche machen es sich einfach, wählen längst von der Tanztheorie nobilitierte Funde und setzen mit einem Oskar-Schlemmer’schen »Bauhaus-Ballett« oder einem »Sacre« von Ausdruckstanz-Ikone Mary Wigman auf garantiertes Publikumsinteresse. In Hagen aber gräbt man wie so oft in abseitigem Gelände. »Wir müssen anders als die anderen in NRW sein – sonst haben wir keine Chance«, sagt Ricardo Fernando. In Hagen also erarbeiten er und Dramaturgin Maria Hilchenbach eine Hommage an Yvonne Georgi. Yvonne Georgi?
Meisterschülerin von Mary Wigman, Tänzerin bei Kurt Jooss, Duopartnerin von Harald Kreutzberg, Ballettdirektorin in Hannover. So einige herausragende Biografie-Partikel, die erahnen lassen, dass hier wohl ein Ausnahmetalent vergessen wurde. Spät entdeckt die gelernte Ausdruckstänzerin Yvonne Georgi das Ballett für sich. »Sie hat eigene Versionen von klassischen Balletten wie ›Petruschka‹ oder ›Nussknacker‹ kreiert. Sie war eine der ersten, die in Deutschland zu elektronischer Musik choreografiert hat«, schwärmt Fernando, der spätestens, als er in ihrem Œuvre ein Ballett mit Namen »Saudades do Brasil« entdeckt, sich zum Biografen der vergessenen Frau berufen fühlt. Notationen zu ihren Choreografien gibt es keine, Filmmaterial nur sehr wenig, immerhin eine Aufnahme ihres 35-minütiges Balletts »Glück, Tod und Traum« zur Musik von Gottfried von Einem. Fernando hat es rekonstruiert. »Wir tanzen in dieser Sequenz zu 98 Prozent Georgi – und das ist schwer! Sie hat mit der Technik von heute choreografiert und man weiß, dass sie viel Temperament im Ballettsaal hatte, oft forderte: ›Macht die Beine höher!‹«
GUTE-LAUNE-GARANT
Über Beinlevels oder die Lust am schnellen Schnörkeln und Schrauben kann man sich beim Ballett Hagen in der Regel nicht beklagen. Manchmal vermisst man in den Tanzabenden den intellektuellen Überbau – findet es gar zu nett. Ohne Musik geht nach eigenen Auskünften gar nichts im Ballettsaal bei Ricardo Fernando. Nur surft er dann gelegentlich zu geschmeidig auf den Schallwellen – ein bisschen widerständiger könnten seine Musik-Vertanzungen zum Kompositions-Spektrum von Bach bis Beatles schon sein. Und trotzdem: Der Tanz in Hagen ist ein Gute-Laune-Garant. Für seine mehrteiligen Ballettabende beweist Fer-nando bei der Wahl seiner Gastchoreografen Geschmack – wie etwa mit dem arrivierten Senior Nils Christe, der Newcomerin Young Soon Hue oder zuletzt mit seinem raffinierten Kollegen Luiz Fernando Bongiovanni bei einem brasilianischen Tanzmedley-Abend, an dem die Klischees von Samba und Sexappeal zwar verspottet, aber in der Verneinung eben doch präsentiert wurden – und solcherart gebrochen dürfen ja auch Trivialitätsskeptiker Spaß dran haben. Und wenn Fernando für seine 14-köpfige Kompanie Handlungsballette programmiert, dann in sehr eigenwilligen Adaptionen. So ist etwa sein »Dornröschen (reloaded)« eine ziemlich draufgängerische Cover-Version des zuckrigen Märchens, mit einer Drag Queen als Fee Carabosse und einer amüsant-peinlichen Prinzen-Parade. Fast schon schräge Parodie auf das romantische Ballett – wenngleich das letzte Quentchen Gift dem Philanthropen Fernando dann doch abgeht, und die Schmonzette wie alle seine Stücke vor allem als Liebesbekenntnis zum Tanz in Erinnerung bleiben. Auch keine schlechte Bilanz.
Premiere »Der Schrank der Georgi«, 17. Mai 2014, Theater Hagen. www.theaterhagen.de