Vielleicht ist es dieses Theater selbst, das ein tieferes Gedächtnis hat, andere Speicherkräfte, eine sich selbst aufladende Energie, die sich zu Zeiten aus dem Proletarischen gespeist hatte und die in seinen Mauern, im Zuschauersaal, auf Bühne und Hinterbühne, in den Künstlergarderoben, der Kantine eingelagert ist. Wer einmal im Schauspielhaus Bochum engagiert – ja, nur Teil des Publikums – war, den vergisst es nicht. Und umgekehrt.
»Heiße Jahre« in Bochum
Peter Zadek erinnert sich an seine »heißen Jahre« in Bochum, die 1972 begannen: »Herbert Grönemeyer war (..) jemand mit einer reinen Phantasie. Er war ein bürgerlicher, reicher Junge, blond, blauäugig und sehr jung. Noch sehr kindlich, um nicht zu sagen, kindisch, höchst intelligent, etwas besserwisserisch, und er war auch kein besonders guter Schauspieler, aber er hatte eine starke Persönlichkeit, und musikalisch konnte er einfach alles. Das war sein Problem – er konnte alles und wußte daher nie, was er machen sollte.«
Grönemeyer, dessen Album »4630 Bochum« mit den Hits »Männer«, »Bochum«, Flugzeuge im Bauch« und »Alkohol« 1984 erschien, hält es ähnlich wie Elfriede Jelinek, wenn sie ihre dramatischen Texte in die Freiheit der Regisseure entlässt: »HerbertFritsch darf alles. Er darf mich zerlegen, zerfleddern, ohne Ehrfurcht, mit Witz.« Und ohne Orchester oder Band, allein und rein mit den Stimmen der Schauspieler als Instrument und mit der Bewegungs-Choreografie wird nun am Bochumer Schauspielhaus »Herbert« inszeniert: »Man muss herausfinden, wo bei jedem einzelnen die Musik sitzt«, so Fritsch: »Das Auge hört mit«.
Mit Intuition
Herbert Fritsch und Bochum, das heißt zugleich Leander Haußmann und Frank Castorf, als das Schauspielhaus zwischen 1995 und 2000 zur zweiten Volksbühne wurde und ebenso das Rad der Vaganten aufs Dach hätte setzen können. Stattdessen strahlte ein Herz als Signet. Fritsch, einer der Stars vom Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin, wütete damals gastweise brillant als Castorfs Marquis de Sade. Mit de Sades orgiastischer »Philosophie im Boudoir« kehrte er vor einem Jahr nach Bochum zurück: als Regisseur. Das Projekt jetzt hier mache er, sagt Fritsch, der dabei nicht nur lustig flatternde Schmetterlinge im Bauch hat, »im Freiflug, mit Autopilot«. Der ist freilich ferngeschaltet mit dem Instinkt und der Intuition des Künstlers für den richtigen Moment.
Das Ensemble – nur die Hälfte der 15 an diesem Bochumer Mittag im Probensaal – tänzelt Schrittfolgen, wieder und wieder, tastet sich mit einem repetitiven »Bitte, Mama« an den Grönemeyer-Song »Kaufen« heran und wechselt dann als Gruppe, die sich ins Schwingen bringt wie der Wind Grashalme, und mit dem fabelhaft eigenwilligen Christopher Nell als Lead-Sänger zu »Commander«. Darin träumt sich Grönemeyer bis nach Oregon und zu Marilyn, bevor der Spielzeugtraum aus Chrom zu Schrott wird. »Ein Walzer, der als Blues gemeint ist«, sagt Fritsch über das elegische Lied. Jemand, einer mit Wien-Kenntnis natürlich, wirft ein, dass beim Dreivierteltakt, wenn der Walzer richtig musiziert wird, »die Drei immer nur vielleicht kommt«.
Potenzial des Scheiterns
Mit Fritsch arbeiten, heißt, als Persönlichkeit herausgefordert und gewollt zu sein und als Schauspieler die Erfahrung zu machen, »auszuhalten, auch wenn mal etwas völlig daneben geht«. Das anarchisch-kreative Potenzial des Scheiterns verbindet Fritsch mit einem anderen Volksbühne-Heroen, Christoph Schlingensief.
Fast alle tragen Schwarz bei der Probe. Später auf der Bühne, die mit drei Meter hohen Trichtern zum Schall-Raum wird, sind es dann silbrige Stahlarbeiter-Mäntel wie zum Hitzeschutz. Kein Realismus, kein Revier-Schmu, wenn, dann abstrahiert und verwandelt: »Currywurst«, anders serviert. Wenn Grönemeyer mal zu den Proben komme, sei er »nicht aus der Ruhe zu bringen«, sagt der andere Herbert, der Melancholie und Humor bei Grönemeyer schätzt, dem Mann mit der störrischen, kantigen, robusten Weichheit. Der in seinen Songs wullacht, Wort-Enden jault, Silben schluckt und kurz und klein hackt, Druck und Drang auspowert, Gefühle groß zieht, zu denen Trauer, Wut und Sehnsucht gehören und manchmal der Kitsch als »sehr attraktive Stilform«, wie Grönemeyer sagt.
»Wir wollen, dass das Material woanders hin gehoben wird, das ergibt einen ganz anderen Blick auf die Texte und die Musik.« Auch ohne Bange vor den großen Hymnen. Herbert gefiltert durch Herbert.
»Herbert«, 21. März (Premiere), 26., 28. und 29. März, 1. und 3. April, www.schauspielhausbochum.de