TEXT: ANDREAS WILINK
Ein Kind ist zu Tode gekommen. Der 14-Jährige wurde am Ortsausgang eines Dorfs bei Bukarest von einem Auto erfasst und beim Aufprall 24 Meter weit geschleudert. Der Schuldige war nach einem Überholmanöver erheblich zu schnell gefahren, mindestens 140 Stundenkilometer. Barbu (Bogdan Dumitrache) ist der Sohn einer einflussreichen, machtbewussten Mutter. Cornelia Keneres (Luminta Gheorghiu), Szenenbildnerin und Architektin, ist nicht mehr jung und dafür zu blond und zu dekolletiert. Sie gehört nicht zur guten, aber zur besseren Gesellschaft, feiert Geburtstag im großen Stil, wohnt teuer und vulgär geschmacklos. So sieht es aus bei der neuen Elite Rumäniens. Im Pelzmantel rauscht Madame auf die Polizeiwache, um den Sohn herauszupauken, ignorierend, dass der sie hasst, gleichgültig gegenüber der armen Familie des Opfers. Sie telefoniert, nutzt ihr Netzwerk, ist perfekt organisiert, will Kontrolle, zuvörderst über Barbu. Sie weiß: ohne Akte keine Anklage und kein Verfahren. Ein Zeuge lässt sich bestechen, die Polizei wünscht eine Gefälligkeit, Ärzte, Experten, Justiz sind manipulierbar. Apparat und Nomenklatura funktionieren also immer noch: Eine Hand wäscht die andere. »Mutter und Sohn« sieht aus wie ein Dogma-Film ohne Dogmen. Die Handkamera begleitet dokumentarisch nah die Personen, das Material wirkt glanzlos. Der Film von Calin Peter Netzer, der im Februar den Goldenen Bären der Berlinale gewonnen hat als bestes Beispiel für ein sozial verantwortliches, dem Luxus abholden Kino, zeigt am Musterfall des Delikts, das durch Beziehungen, Arrangements, Geld und Gier aus der Welt geschafft wird, den korrumpierten Zustande eines Landes im postkommunistischen Kapitalismus. Zugleich und vor allem anderen ist er, wie der Titel sagt, das Porträt einer desolaten Mutter-Sohn-Beziehung. Verzogen, verwöhnt und an den falschen Stellen rebellierend, sehen wir ein mürrisches bärtiges neurotisches Groß-Baby von 34 Jahren, das sich vergeblich der Dominanz der Übermutter zu entziehen sucht, die ihren Barbu noch immer »Kind« nennt, ihn belehren will (Herta Müller und Orhan Pamuk liest er aber nicht), dessen moderne Wohnungs-Einrichtung ihr nicht passt und dessen Freundin schon gar nicht. Cornelia hat keinen adäquaten Ehemann an ihrer Seite, einen solchen würde sie auch nicht dulden. »Bitte, lass mich raus«, sagt Barbu als letztes zu ihr, und das meint mehr als den Ausstieg aus dem Wagen. Zuvor hatte er gefordert: »Eure Generation soll einfach verschwinden«. Aber die Folge-Generation, die der Söhne und Töchter, macht es nicht besser.
»Mutter und Sohn«; Regie: Calin Peter Netzer; Darsteller: Luminta Gheorghiu, Bogdan Dumitrache, Ilinca Goia; Rumänien 2013, 112 Min.; Start: 23. Mai 2013.