»Kultursaal« steht außen am Haus. Der Schriftzug erinnert an eine Zeit in den 1950er Jahren, da man der Kultur solche Gebäude baute – für den Fall, dass sie mal vorbeikäme. Heute werden im Kultursaal der »Landesstelle Unna-Massen« die Neuen begrüßt: Neu-Deutsche aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, Spätaussiedler und jüdische Zuwanderer, die vom Grenzlager Friedland direkt hierher kamen.
Die »Landesstelle« ist ihr erster Wohnort, hier dürfen sie sich langsam ans Deutschsein gewöhnen. Ein paar Wochen bleiben sie in der Anlage mit ihren Nachkriegs-Wohnsiedlungen, in denen mehr als 3000 Menschen gleichzeitig unterkommen können. Dann werden sie auf die Städte und Gemeinden NRWs verteilt.
Die Neuen sitzen an Gruppentischen, sie tragen Jacken und Mützen wie Wartende in einer Bahnhofshalle. Vor der Bühne steht Thomas Kufen, der Integrationsbeauftragte. »Ich heiße Sie im Namen der Landesregierung herzlich willkommen«, sagt er, und: »Ihre berufliche Qualifikation liegt uns am Herzen«. Eine Dolmetscherin übersetzt.
Laut Programm folgt nun ein »musikalisches Zwischenspiel«. Es treten auf: Olga Shevelevich (Harfe), ihr Sohn Alexander, genannt Sascha (Harfe) und Julia Weissmann (Geige).
In der Hoffnung auf ein besseres Leben
Es ist nicht lange her, da trat Olga Shevelevich in den USA auf. Sie spielte auch in Kanada und Mexiko, in Japan, Israel und Frankreich, vor allem aber in St. Petersburg, in dessen renommiertem Mariinsky Orchester sie die Solo-Harfinistin war. Nun gibt Olga Shevelevich ein Konzert im Kultursaal in Unna-Massen, vor Landsleuten, die die gleiche Entscheidung getroffen haben wie sie selbst: aus Russland fortzugehen in der Hoffnung auf ein besseres Leben.»Es war zu schwer, in Russland zu leben. Ich hätte auf Tournee gehen müssen, um genug Geld zu verdienen, aber ich bin alleinerziehend«, erzählt sie auf Englisch. 16 Jahre lang spielte sie in dem Petersburger Orchester – mehr hätte sie in Russland kaum erreichen können. »Ich wollte einen anderen Dirigenten, ein anderes Land, eine andere Sprache. Wenn schon wechseln, dann richtig«, findet sie. »Wonderful« sei Deutschland, das sage auch ihr Sohn.
Der siebenjährige Sascha spielt Harfe, seit er fünf ist, und hat in Russland bereits einen wichtigen Nachwuchs-Wettbewerb gewonnen. Er hat eine eigene Seite im Internet. In Russland gelten Kinder wie er, die auf Musik-Konservatorien gehen, als Berufsmusiker. Auf seiner Homepage trägt der Junge Hemd und Fliege, ernst schauende blaue Augen begrüßen den Besucher. Ein zweites Foto zeigt ihn an seinem Instrument, das fast doppelt so groß ist wie er selbst. »Alexander ist erfolgreich beim Internationalen Harfen-Festival in Moskau aufgetreten «, wirbt die Seite für das Wunderkind, »im Mai 2005 gab er eine gefeierte Vorstellung auf der Bühne des berühmten Kammersaals der Petersburger Philharmonie.« Nun ist Sascha Deutscher, und wenn seine Mutter ihn weiterhin fördern will, muss sie sich dafür mehr anstrengen als in Russland: Musik- Internate oder Schulen, in denen schon Kinder auf eine Musik- Karriere vorbereitet werden, gibt es in Deutschland nicht. Doch zunächst mal muss seine Mutter es selbst schaffen in dem Land, dessen Sprache sie noch nicht einmal spricht. Olga Shevelevich lächelt auf die Frage, ob sie glaubt, ihre Karriere in Deutschland fortsetzen zu können.
Warum sollte sie nicht? Eine in Russland ausgebildete Harfinistin mit langjähriger Erfahrung in einem Orchester mit Weltruf? Ein Gespräch mit Gerald Mertens, dem Geschäftsführer der Deutschen Orchestervereinigung (DOV), hinterlässt jedoch einen anderen Eindruck: Deutschland hat auf russische Musiker nicht gerade gewartet.
Der Markt ist eng
»Nehmen wir die Geiger«, erklärt er. Die russische Geigenschule sei eine völlig andere als die deutsche. »Technisch sind sie meist brillant, aber sie klingen eben anders«. Wer in Russland ausgebildet worden sei, müsse jung genug sein, denn kaum ein deutsches Orchester nehme neue Musiker auf, die älter als 34 seien. »Wer Ende 30 ist, bislang in einem russischen Orchester gespielt hat und keine großen Namen vorweisen kann, der hat de facto keine Chance.« Die 24 Musikhochschulen in Deutschland entlassen pro Jahr 550 bis 600 Musiker auf den Markt. Gleichzeitig werden pro Spielzeit zwischen 120 und 150 Stellen in den 135 deutschen Kulturorchestern frei. Der Markt ist eng. »Das WDR-Rundfunk-Orchester bekommt auf eine freie Cello-Stelle 300 Bewerbungen«, weiß Mertens.
Olga Shevelevich will erst einmal in Deutschland ankommen, eine Wohnung und eine gute Schule für ihren Sohn aussuchen. Deutsch lernen. Sich eingewöhnen. Dann will sie sich ums Probespielen bemühen. Sie ist 34, mit jedem Jahr wird es nun schwieriger werden. Und doch haben russische Musiker, die wie Olga Shevelevich nach Deutschland aussiedeln, gegenüber anderen Berufsgruppen einen Vorteil: Sie finden in Deutschland ein Netzwerk vor. Es gibt zwar keinen eigenen Verein oder Verband – doch man kennt sich. Olga Shevelevich zum Beispiel kennt die Geigerin Julia Weissmann, mit der sie nun im Kultursaal Unna-Massen musiziert. Julia stammt ebenfalls aus St. Petersburg lebt bereits seit sieben Jahren in Deutschland, beide wohnen nun in Düsseldorf. »Olga ist eine Weltklasse-Solistin mit unglaublicher Erfahrung, sie kennt die gesamte Kammerliteratur für Harfe«, sagt Julia Weissmann. Wird sie es also schaffen? »Ich hab schon ein paar Wunder bei mir selbst erlebt. Was nicht möglich schien, ist trotzdem passiert.«
Als Julia Weissmann Mitte 30 war und neu in Deutschland, ging sie zum Künstlerdienst des Arbeitsamtes und spielte dem zuständigen Sachbearbeiter vor. Dessen Worte hört sie noch heute: »Die deutschen Orchester brauchen Sie nicht«, habe er gesagt. »Wenn Sie wüssten, wie viele Leute aus Russland ausgewandert sind und hervorragend spielen können.« Dass Julia Weissmann nach ihrer Ausbildung in Moskau schon acht Jahre in der Schweiz gelebt und Barock-Geige studiert hatte, spielte keine Rolle. Zehn Minuten später jedoch kam der Anruf eines Flensburger Orchesters, das noch Bewerber für ein Probespiel suchte. »Ich bin hingefahren und habe die Stelle gekriegt. Sie war befristet, aber wurde ein Pluspunkt im Lebenslauf«, erzählt sie. Später spielte sie die zweite Geige in Frankfurt, wurde Konzertmeisterin in Lüneburg und Leipzig. Heute arbeitet sie als Dozentin an der Musikakademie Kassel, auch das befristet. Die große Karriere in Deutschland ist ausgeblieben, aber Julia Weissmann ist trotzdem glücklich.
Die Arbeit mit ambitioniertem Nachwuchs macht ihr Spaß, und nebenbei gibt es immer einige Engagements. Sie sieht die Situation für ihre Landsleute realistisch. Das Problem, sagt sie, sei, dass Russen in der Regel als Solisten ausgebildet werden. »Es ist aber gefährlich, in einem deutschen Orchester zu viel solistische Fähigkeiten zu zeigen, sonst vermuten die Leute, dass man für die Gruppe nicht taugt.« Die Vorurteile, die in manchen Orchestern gegenüber Russen bestehen, sind nicht völlig unbegründet, findet Julia Weissmann. »Es gibt die Kollegen, die gerne in den Pausen Paganini-Capricen spielen, damit alle hören, wie gut sie sind. Es sind die Frustrierten. Die glauben, dass sie eigentlich Konzertmeister sein sollten – im Tutti sind sie höchst unglücklich.«
Die Bewerberzahl ist riesig
Julia Weissmann und Olga Shevelevich sind zu spät geboren. »Vor 20, 30 Jahren, als wir Russen in Deutschland noch nicht an jeder Ecke zu finden waren, war es ein großes Glück für ein Orchester, einen russisch ausgebildeten Streicher im Orchester zu haben«, glaubt Weissmann. Jetzt gibt es zu viele Russen, der Markt ist voll. In dieser Situation bleibt russischen Musiker immer noch die Chance, in einem der russischen Orchester in Deutschland zu spielen. Eines davon sind die Internationalen Symphoniker aus Dortmund: 65 Musiker, von denen mehr als zwei Drittel aus Russland stammt und auch dort ausgebildet wurde. Einige waren für ein deutsches Orchester zu alt, einige überbrücken hier Phasen der Arbeitslosigkeit, andere üben in Deutschland einen anderen Beruf aus und spielen nur noch nebenbei. Die Internationalen Symphoniker sind ein Profi-Orchester voller Freiberufler; Gagen gibt es nur nach Auftritten. »Wir spielen in den besten Sälen Deutschlands«, wirbt Manager Maxim Berin, der Sohn des Dirigenten, »wir haben uns unser Publikum hart erarbeitet und arbeiten mit Weltstars.« Das Orchester ist vergleichbar mit einem A-Orchester, findet er und hofft, dass sein Bemühen um staatliche Fördermittel bei der neuen Regierung auf offenere Ohren trifft als bei der vorigen: »Unser Orchester muss unterstützt werden.« Wenn die Berins in ihrem Orchester eine Stelle zu besetzen haben, geht es ihnen nicht anders als den Chefs der deutschen Klangkörper: Die Bewerberzahl ist riesig. »Das Alter der Leute ist uns jedoch nicht so wichtig. Wichtig ist, wie man spielt – und viele spielen mit 50 viel besser als mit 30«, sagt der 27-Jährige. Der älteste Musiker der Internationalen Symphoniker ist 60, der jüngste gerade 24.
Die Hoch-Zeit der Spät-Aussiedlung aus Russland und den Staaten der ehemaligen Sowjetunion ist längst vorbei. Noch vor zehn Jahren kamen rund 47.000 Aussiedler jährlich nach NRW, 2005 waren es nur noch knapp 8000. Das liegt einerseits an den Bedingungen, die sich seitdem verschärft haben, sagt Jochen Donnepp, stellvertretender Leiter der Landesstelle Unna-Massen. Andererseits liegt es an der Arbeitslosigkeit in Deutschland. Die hat sich auch in Russland herumgesprochen.
Die Geigerin Julia Weissmann hat eine Tochter. Assia ist neun Jahre alt, natürlich spielt sie Geige. »Ich war mit ihr vor kurzem in Hamburg bei einem Musikwettbewerb. In der Alterskategorie bis zehn Jahre waren fünf kleine Geiger da, und alle waren Russen«, erzählt sie.
Bei den Älteren habe es auch einige Koreaner und Japaner gegeben – und ein paar Deutsche, deren Eltern Musiker waren. Julia Weissmann hat ihrer Tochter das Instrument nicht aufgedrängt, beteuert sie: »Mit dreieinhalb Jahren wollte sie eine Geige. Ich habe eine Plastikgeige gekauft und gedacht, vielleicht geht es gut.« Assia bestand jedoch auf einer richtigen. »Und sie ist leider… leider begabt«, sagt die Mutter, ohne ein Lächeln. »Sie ist wahrscheinlich als Musikerin geboren. Ich muss ihr diese Möglichkeit geben. Es ist leider meine Pflicht, ihre Begabung zu fördern.«