Als Gründungsintendant der RuhrTriennale hat Gerard Mortier drei Mozart-Produktionen herausgebracht, »Don Giovanni«, »Die Zauberflöte« und Alain Platels Tanztheater »Wolf«. Schon während seiner Zeit als Chef des Brüsseler Théâtre de la Monnaie und der Salzburger Festspiele war Mozart sein bevorzugter Komponist, den er von Regisseuren wie Bondy, Chéreau, Grüber, Freyer, Herrmann, Mussbach, Neuenfels und Sellars deuten ließ. An der Pariser Oper, die Mortier seit 2004 leitet, wird am 250. Geburtstag Mozarts, dem 27. Januar, »Don Giovanni« in der Regie von Michael Haneke Premiere haben. Mortier, der gern den Chor aus der »Zauberflöte« mit dem utopie-haltigen ». . . dann ist die Erd’ ein Himmelreich, / und Sterbliche den Göttern gleich« zitiert, beschreibt im Folgenden sieben Aspekte des Künstlers und Menschen Wolfgang Amadeus Mozart.
Vor dem Requiem
Als Mozart 1791 mit 36 Jahren an einem Nierenleiden starb, das wahrscheinlich von den Strapazen seiner langen Reisen während der Kindheit herrührt, war er nicht mehr »der Jüngste«. Damals lag die Lebenserwartung bei kaum 40 Jahren. Mozart ist also ein fast betagter Mann, der ein Großteil seiner Dinge bestellt hat. Seine letzten drei Jahre verbringt er auf nahezu selbstmörderische Weise, ohne Rücksicht auf sich selbst, verbissen daran arbeitend, alles niederzuschreiben, was in ihm ruht – bis zum Requiem. Dabei lebt er vereinsamt: vom Wiener Adel ignoriert, der ihm seine übermütigen Angriffe im »Figaro« gegen das ius primae noctis nicht verzeiht; seit dem »Don Giovanni«, dem rücksichtslos offenen Porträt des großen verächtlichen Aristokraten-Libertins, von der Majestät nicht mehr alimentiert (am Hofe schreibt nun Salieri die Opern und Mozart ist gerade gut genug, Tänze für den Ball zu komponieren); von seiner Frau Constanze wegen seines Schülers Süssmayr verlassen.
Glaubensfragen
Mozart hat nicht viele religiöse Werke geschrieben, doch ist er tiefkatholisch. Von seiner Mutter erbte er einen kindlichen Glauben an Gott. Sein Vater, eher ein Mann der Aufklärung, las Voltaire, den der Sohn ablehnt, weil der Verfasser des »Candide« die Religion zu scharf angreift. 1784 tritt Mozart den Freimaurern bei, deren Einstellung durchaus mit dem Katholizismus vereinbar ist. Die philosophische Bewegung, die äußere Autorität durch innere Disziplin ersetzen möchte, kommt aus England, erreicht zunächst Frankreich und gewinnt dann Freunde in Deutschland, eint viele der Aufklärer, darunter Adelige, die sich gegen die absolutistische Macht von Monarchie und Kirche zusammenfinden. Ihre zentrale Frage: Welche Werte sollen den Bürger leiten, wenn der Absolutismus einmal abdankt?
Arbeit am Genie
Unterschiedlichste Fantasien wurden auf Mozart projiziert. Die Nazis idealisierten ihn zu einer griechischen Gottheit. Hollywood machte aus ihm das Modell eines Selfmademan und Popstars. »Amadeus« von Peter Shaffer, dessen Verfilmung durch Milos Forman ein Welterfolg wurde, erweckt den Eindruck einer extremen Einfachheit des Komponierens. Mozart war zwar höchst innovativ und hatte quasi ständig eine Melodie im Kopf, aber vor allem ein fleißiger Arbeiter. Sein Vater prägte ihn in dieser Hinsicht. Seit seinem vierten Lebensjahr lebt er mit dem und an dem Klavier. Womöglich hat er, wie »Amadeus« andeutet, die Ouvertüre zu »Don Giovanni« erst in der Nacht vor der Premiere zu Papier gebracht. Gewiss hatte er sie aber schon von früh an in sich entwickelt, denn das Thema korrespondiert exakt mit dem musikalischen Ende. Man muss nur die Partituren betrachten: Er verschrieb sich nie – seine Kompositionen sind ebenso perfekt gebaut wie das Straßburger Münster.
Der Kunst und das Brot
Die romantisierende Bestattungsszene im Film »Amadeus « zeigt den letzten Weg des Toten, dessen einzige Begleitung ein streunender Hund ist. Es war nicht unüblich, in einem Sammelgrab beigesetzt zu werden. Indes war Mozart weder arm noch reich. Phasenweise hat er sogar sehr gut verdient. Schon als Kind nimmt Leopold ihn mit auf Reisen quer durch Europa, darum bemüht, Kontakte zu knüpfen, und die Konzerte des Knaben als Gabe des Himmels zu verbuchen. Als er 1781 in Wien Fuß fasst, wohnt er in schönen Appartements, in denen Hausmusik gemacht wird. Der Höhepunkt dieser Periode liegt zwischen »Figaros Hochzeit« und »Don Giovanni«. Das eine wie das andere Werk brachten ihm 100 Dukaten, umgerechnet etwa 9000 Euro (heute zahlt man mindestens 100.000 Euro für eine Oper). Das Doppelte bekam er für »Titus«, komponiert zur Krönung von Leopold II. im Todesjahr 1791. In diesen Jahren begann der soziale Abstieg – mit ein Grund war der Krieg gegen die Türken, der eine Rezession brachte. Mozart hat enorme Schulden, kaum noch Einkünfte. Besucher kommen nicht mehr in seine durch Spenden organisierten Konzerte – eine noch zu neue, zu eng an die gesellschaftlichen Bindungen des Künstlers gekoppelte Methode, als dass sie den materiellen Unterhalt sichern könnte.
Der Mann der Frauen
Das Bild vom wilden Erotiker Mozart begründet die puritanische Reaktion auf den Briefverkehr mit seiner Nichte, dem Bäsle – einem wahrhaft obszönen Monument. Als Mensch des 18. Jahrhunderts steht Mozart im Konflikt von normierter Liebe und regellosem Sex. Es ist unmöglich, seine Musik, die von Liebe und Verlangen weiß, zu erfassen, zensiert und ignoriert man die Facetten des Menschen und Mannes. Drei Frauen sind da von Einfluss. Die Sängerin Aloysia Weber, in die er sich verliebt, als er auf dem Weg nach Paris in Mannheim Halt macht. Sie weist ihn ab – schließlich sieht Mozart nicht sonderlich gut aus (trotz außergewöhnlich lebhafter Augen), hat ein pockennarbiges Gesicht und misst nur 1,52 Meter. Für ihn verkörpert sie von nun an die übergeordnete Instanz der unerfüllten Liebe, die er in den großen Arien für seine Koloratur-Sopranistinnen fixiert. Zum zweiten seine Frau Constanze, die kleine Schwester Aloysias. Er liebt sie sehr und ist ihr ein braver Mann, auch wenn sie sich gegenseitig betrügen. Schließlich die sexuelle Partnerin, das Bäsle. Mozart trägt in sich den Kampf mit dem Begehr nach unbedingter Liebe und seinem Instinkt und Trieb aus. »Così fan tutte« spiegelt den Widerstreit dieser konträren Richtungen. Ein wichtiger Gedanke für uns und unsere Zeit, die gleichzeitig den Anspruch auf Freiheit der Lüste und Treue in der Liebe erhebt. Und die Moral daraus?: Erdulden daraus erwachsener Schmerzen, um menschlicher zu werden. Ein Selbstfindungs-Angebot und -Gebot.
Das Liebesgebot
Mozart ist Humanist. Sein Werk schildert die Beziehungen zwischen Individuum und Obrigkeit, Individuum und Menschheit. Im »Figaro« – mehr als bloße Inszenierung des Beaumarchais – betrachtet er die Ehe als Keimzelle einer zu erschaffenden Gesellschaft, hierin die Anordnung durch ein Gesetz von Joseph II. nachverfolgend. Es besagt, dass die Ehe aus Liebe (und für den Kindersegen), nicht aber aus materiellen Interessen geschlossen werden soll. Selbst ohne Zustimmung der Eltern, wenn die Ehegatten älter als 20 sind. Auch Scheidung soll möglich sein – das ist der Gipfel für einen römisch-katholischen Kaiser. »Die Zauberflöte« geht noch weiter: Die Liebe zweier Menschen kann die Welt verändern. Während Papageno und Papagena über ihre Nachkommen sinnen, ist für Tamino und Pamina davon noch keine Rede. Sarastro überträgt ihnen die Aufgabe, das »bessre Land« zu schaffen. Mozarts »Überstaat heißt Menschheit« (Ivan Nagel). »Wahres Genie ist Liebe«, nicht Verstand oder Einbildungskraft, schreibt Freund Jacquin seinem Mozart ins Stammbuch.
Der erste bürgerliche Künstler
Mozart gehört zum neuen Bürgertum. Er hegt keinen Hass gegen den Adel, wohl aber gegen dessen Privilegien. Er akzeptiert die ständische Klassen-Gesellschaft, aber nicht das Prinzip der Ausbeutung. 1777 verlässt er den Hof in Salzburg aus zwei Gründen. Der eine ist persönlich: Als Musiker zählt Mozart zum so genannten kleinen Personal des Schlosses, und er erträgt es nicht länger, die Mahlzeiten gemeinsam mit den Kutschern einzunehmen, deren vulgär-banale Konversation ihn quält. Der andere Grund ist künstlerisch: Mozart ist überzeugt davon, dass seine Begabung danach verlangt, innovative Opern zu schreiben, deren Kern das Orchester, gefolgt von der Stimme sein soll. Nur ist das Orchester des Hofes viel zu klein. Er zieht nach Paris, erstmals ohne den Vater, begleitet von der Mutter, die dort stirbt und in St. Eustache beigesetzt wird. Der Aufenthalt wird zum Desaster. Die Pariser, die das Wunderkind liebten, befinden nun, der Komponist sei nicht mehr zeitgemäß. Nicht kultiviert genug, nicht Höfling genug, nicht umtriebig genug. Und er findet, die Pariser hören nicht genug zu. Wütend bricht er ein Konzert im Palais Conti ab. Mit acht Jahren beschwerte sich der Knabe, dass Madame de Pompadour ihm einen Kuss verweigerte. Mit 21 wird er nicht einmal mehr in Versailles empfangen. Der Hof hat nur noch Augen für den Kollegen Gluck, der sich die höfischen Sitten anzueignen wusste. Von der Autonomie des Genies durchdrungen, kann und will er nicht dienen. Er ist zwar ruiniert, aber er unterwirft sich nicht. Nach zwei Jahren im Dienst des Fürst-Erzbischofs Colloredo in Salzburg als erster Geiger kehrt er zurück in die Unabhängigkeit und sucht als »Freiberufler« 1781 ein Engagement bei Joseph II., dessen Großmut er in »Die Entführung aus dem Serail« feiert. Er, der es ablehnt, angestellt zu sein wie Bach oder Haydn, ist damit der erste große bürgerliche Künstler avant la lettre. Wir müssen noch bis zum 19. Jahrhundert und bis Beethoven warten, um für die Idee der Freiheit des Künstlers Anerkennung zu finden. //
Wir danken »Le Figaro«, Paris; Übersetzung: Jörn Schüler; Redaktion: Andreas Wilink.