k.west: Weshalb veröffentlichen so viele Leute Fotos von ihrem Essen in den sozialen Medien?
KOFAHL: Essen war für uns immer mehr als die Aufnahme von Nährstoffen, um die Funktionen unseres Körpers aufrecht zu erhalten. War immer auch Kommunikationsmittel. Früher hat sich die Hofgemeinschaf am Tisch versammelt und gemeinsam gegessen. Das ist vorbei, viele essen allein oder im kleinen Kreis. Indem ein Essens-Foto online gestellt wird, stellt man diese alte Tischgemeinschaf virtuell wieder her.
k.west: Was serviert wurde, war früher also nicht so wichtig?
KOFAHL: Doch. Es zeigte auch, was man sich leisten
kann und wo man sozial steht. Beim Adel kam gelegentlich Pfau auf den Tisch, obwohl er nicht besonders schmackhaf, dafür teuer und schmuckvoll war. Er drückte den eigenen Stand aus. In der Moderne kamen neue Mittelschichten auf. Am Sonntag gab es den Braten und wenn Besuch kam, die guten Schnäpse. Das war ein Zeichen von Wohlstand und kulinarischer Teilhabe.
k.west: Dieser allgemeine Konsens ist vorbei. Stellt man heute Braten auf den Tisch, wird sich ein Teil der Gäste abwenden.
KOFAHL: Einen solchen Konsens gab es nie an allen Tischen. Im Mittelalter wollte die Oberschicht keine Innereien essen, sondern nur das weiße Fleisch. Auch später, als das Bürgertum an Einfluss gewann, war dieses teurer. Hätten sie vor 300 Jahren beim Adel Vollkornprodukte serviert, hätten die Aristokraten angewidert geschaut. Heute hat sich das über alle Milieus hinweg verstärkt. Essen macht popkulturell der Musik Konkurrenz. Viele von uns definieren sich darüber, was sie essen und was nicht, ob sie Veganer sind oder Fleischfreunde.
k.west: Essen ist also ein Medium, um sich zu unterscheiden?
KOFAHL: Das hat sicher noch mehr an Bedeutung gewonnen. Aber, von Hungerperioden abgesehen, mussten wir uns immer entscheiden, was wir essen und was nicht. Die Entscheidungsmöglichkeiten haben seit der Nachkriegszeit zugenommen: Migranten brachten ihre Küche mit, Auslandsreisen haben den Geschmack verändert. Wir müssen heute beim Einkauf oder bei der Wahl des Restaurants mehr entscheiden. Esse ich Fleisch? Meide ich Zucker? Was ist mit Gluten? Bevorzuge ich regionale, nationale, internationale Küche? Ist mir Geschmack wichtiger oder Gesundheit?
k.west: Arme essen also anders…
KOFAHL: Wenn es darum geht, nicht zu verhungern, essen wir alles. Solche Zeiten sind noch nicht so lange her. Die Generationen unserer Großeltern bzw. Urgroßeltern waren nicht besonders wählerisch. Da wurde das ganze Tier gegessen, inklusive Innereien, das Rückenmark kam als Klößchen in die Suppe. Bei Gemüse war es ähnlich: Das Karottengrün wird heute weggeworfen, früher wurde es gegessen.
k.west: Essen ist auch Anlass für politische Konflikte. Der Veggieday etwa kam die Grünen 2013 teuer zu stehen…
KOFAHL: Menschen mögen nicht, wenn man ihnen vorschreibt, was sie zu essen haben. Essen und Geschmack ist zu sehr mit der individuellen und sozialen Persönlichkeit verknüpft und zentraler Bestandteil des Alltagshandelns. Die Grünen haben das nach ihrer Forderung, in Kantinen einen Veggieday einzuführen, ebenso zu spüren bekommen wie die Organisatoren eines Stadtfestes in Kassel, die dort keine Wurststände haben wollten.
k.west: Ist wissenschaftlich bewiesen, was gesundes Essen ist?
KOFAHL: Wir wissen, was ungesund ist: Eine Flasche Whiskey zum Frühstück oder sich nur von Kokosnüssen zu ernähren, wie es August Engelhardt Anfang des 20. Jahrhunderts seinem Sonnenorden empfahl. Nichts zu essen ist auch nicht gut, dann verhungert man. Aber was gesund ist, ist unklar. Alles Extreme ist eher schlecht, alles Ausgewogene muss deswegen nicht gut sein. Es gibt Menschen, die sind bis ins hohe Alter fit und haben nie Gemüse gegessen. Eskimos ernähren sich fettreich, aber sind trotzdem nicht of krank. Es gibt keine klaren Kausalitäten.