TEXT: ULRICH DEUTER
Ein bis drei Gramm Natriumchlorid braucht der gesunde Mensch täglich, aber die braucht er auch. Fehlen sie, entwickelt der Körper ein Verlangen danach, belohnt dessen Befriedigung mit einer Extra-Ausschüttung Dopamin. Ohne Salz taugt eben auch die beste Suppe nichts – Menschen, die, freiwillig oder unfreiwillig, lange abseits der Zivilisation leben mussten, bekennen, das Fehlen von Salz sei das Allerschlimmste gewesen.
Fleisch und Blut erlegter Tiere sicherten den Kochsalzbedarf der schweifenden Jägersippe; dem sesshaft gewordenen, ackerbauenden Homo sapiens aber schmeckte sein Hirsebrei fad. Und jeder Überfluss an Nahrung verdarb ihm – nur Salz kann in den Äonen vor Erfindung des Kühlschranks Fleisch und Pflanzen dauerhaft haltbar machen. Wer Salz hat, hat Zivilisation.
Und wird wohlhabend. Wie die Beigaben der Gräber im Salzbergtal oberhalb des ostalpinen Ortes Hallstatt reichlich zeigen, einem der größten prähistorischen Friedhöfe Europas. Aus 6000 Begräbnisstätten, 1500 davon bislang freigelegt, sind Glasgefäße aus Italien, Schwerter mit Einlagen aus afrikanischem Elfenbein, Bernsteinschmuck von der Ostsee, Ohrringe aus Gold und vieles Kostbares mehr aus dem Dunkel der frühen Eisenzeit aufgetaucht: Zeugnisse des Wertes der kunstlosen Bröselware, mit der die Hallstatter europaweit handelten. Das Salzgeschäft erlaubte es einer Dorfgemeinschaft, sich Kostbarkeiten zu leisten, die andernorts nur in Prunkgräbern oder Fürstenbestattungen zu finden sind.
Wie jene Schale mit einem Henkel in Form einer von einem Kälbchen gefolgten Kuh, eine ganz fein gestaltete Bronzearbeit aus dem 6. vorchristlichen Jahrhundert. Das – wie man vermutet – Zeremonialgefäß aus dem Grab einer Priesterin ist einer der dinglichen Höhepunkte der Ausstellung »Das weiße Gold der Kelten – Schätze aus dem Salz« im LWL-Museum für Archäologie in Herne, eine vom Naturhistorischen Museum Wien kuratierte Hommage an einen der wichtigsten Betriebsstoffe menschlicher Zivilisation.
SALZ KOSTBAR WIE GOLD
Die keltische Hallstatt-Kultur – in der älteren Eisenzeit von etwa 800 bis 450 v. Chr. – erstreckte sich von Nordostfrankreich bis zum Nordwesten der Balkanhalbinsel. Nur die Leute aus Hallstatt selbst aber, gelegen im heute österreichischen Salzkammergut, bauten in den Tiefen der alpinen Berge das ab, was fast so kostbar wie Gold war. Dabei traten sie in die Fuß- und Schürfspuren viel früherer Vorfahren: Schon in der Jungsteinzeit, also vor 7000 Jahren, kratzten Menschen hier mit zu Hacken umgewidmeten Hirschgeweih-Enden Salz aus dem Boden. Dorthin hatte es jener Ozean abgelagert, der vor 250 Millionen Jahren schwappte, wo heute die Alpen ragen; und weil sonst in Zentraleuropa Salz selten war, hatten die Hallstatter ein klares, besser gesagt schmutziggraues, Alleinstellungsmerkmal. Denn genau das, »Schmutziggraues«, bedeutet Salz (gereinigt weiß und schön rieselfähig ist das Würz- und Konservierungsmittel erst heutzutage); und Hallstatt heißt nichts anderes als »Salzstätte«.
Gut vorstellbar ist, dass frühe Menschen Tieren folgten, die aus Quellen tranken, die das Salz der Erde an die Oberfläche spülten; der Salzabbau untertage ist in Hallstatt archäologisch eindeutig belegbar erst seit der mittleren Bronzezeit. Wobei die Zeugnisse aus diesem 15. Jahrhundert v. Chr. einen bereits entwickelten untertägigen Bergbau beachtlichen Ausmaßes zeigen; seine Anfänge müssen also früher liegen. Mindestens drei Schachtanlagen sind damals in Betrieb: Vom Hang waagerecht in den Berg führende Stollen münden in Schächte von über 100 Metern Tiefe. Im Jahr 1245 v. Chr. (datierbar durch einen herausgerissenen Wurzelstock) verschüttet ein Bergrutsch die gesamte Anlage; erst 400 Jahre später beginnen nun mit Eisenwerkzeug ausgestatte Menschen – Kelten – aufs Neue zu graben, kommen sogar 200 Meter tief, bauen wie die Zwerge von Moria bis zu 20 Meter hohe Hallen, sorgen für Belüftung und Wasserhaltung, konstruieren Treppen für den Abtransport.
ABBAU MIT BRONZEPICKELN
Artefakte in Vitrinen und Kojen, Texte und sparsame Inszenierungen entwerfen in Herne folgendes Bild des Salzabbaus in der Bronzezeit: Mit Bronzepickeln, die auf ein abgewinkeltes Holz (Knieholz) geschäftet sind, werden parallele Rillen in den Berg geschlagen, um die dazwischen liegenden Salzplacken herausbrechen zu können. Sonderbarerweise sind die Pickel in einem so spitzen Winkel am Stiel befestigt, dass bis heute unklar ist, wie damit gehauen wurde (und ebenso erstaunlicherweise werden auch in den eisenzeitlichen Schachtanlagen weiterhin Bronzewerkzeuge genutzt). Transportiert werden die Salzbrocken in ledernen Kiepen, die bis zu 30 Kilogramm tragen können, ihre Gurte lassen sich passend zur Körpergröße verstellen, der Rucksack selbst ist, ohne dass er abgesetzt werden müsste, mittels eines raffiniert angebrachten Holzknüppels seitlich zu entleeren. Auch eine 2003 gefundene Holzstiege zeigt die hohe Effizienz des bronzezeitlichen Arbeitsablaufs untertage: Die Stiege ist nach dem Baukastenprinzip konstruiert, d.h. verlängerbar, zu Transportzwecken in Einzelteile zerlegbar, in der Neigung verstellbar. Sie ist so breit, dass der Salztransport in beide Richtungen, auf und ab, gleichzeitig erfolgen kann. Die Dendrochronologie beweist, dass die Treppe im Jahr 1344 v. Chr. gezimmert wurde und damit die älteste erhaltene Holztreppe der Welt ist. (Ein Nachbau ist im Museum zu sehen.) Beleuchtet werden die Abbaustätten von zu Bündeln geschnürten, anfangs etwa einen Meter langen Holzspänen; wahrscheinlich werden sie von Kindern gehalten, denn auch die Kleinen müssen mit ins Salz – Schuhe der Größe 30 oder ein 2.500 bis 2.800 Jahre altes Kinderbarett, das wie Vieles unter Salz und Geröll gut konserviert wurde, beweisen dies.
Den ganzen Tag verbringen die Bergleute im Schacht, Essens- und Ausscheidungsreste legen dies nahe. Man isst Fuß, Schwanz oder Schwarte von Schwein oder Schaf, Saubohnen, Rollgerste, Hirse; man säubert sich das Gesäß mit Blättern des Pestwurzes, die zudem über eine antiseptische Wirkung verfügen (denn Darmparasiten sind normal). Ein bronzezeitlicher Friedhof wurde bislang nicht gefunden; doch die Bergleute des 15. werden an nichts anderem gelitten haben als die des 8. vorchristlichen Jahrhunderts, die zu Tausenden auf dem Hallstätter Gräberfeld beerdigt sind: Aufgrund der harten Arbeit des Hauens und Schleppens sind die Knochen der Schultern und Arme stark deformiert. Doch war man sich ja eines leichteren Lebens im Jenseits gewiss – wie der Reichtum der Grabbeigaben zeigt. Welchen Ahnen-Göttern man huldigte, weiß niemand – vielleicht welchen aus Salzkristall.
Bis 25. Januar 2015. Tel.: 02323/94628-0. www.lwl.org/keltenausstellung. Katalog 19,90 Euro