// Als 1950 die amerikanische Musikzeitschrift Metronome in einer Umfrage die einflussreichsten Jazz-Musiker für eine All Star Band suchte, kam ein Ergebnis heraus, mit dem niemand gerechnet hatte. Selbst Miles Davis nicht. Der Senkrechtstarter an der Trompete hatte nicht nur sein großes Vorbild Dizzy Gillespie aus dem Rennen geschlagen. »Außer mir und Max Roach waren alle in dieser Band weiß«, erinnerte sich Davis 1989 in seiner Autobiographie – und weiter: »Noch nicht mal Bird (Charlie Parker) schaffte es – Lee Konitz lag vor ihm.« So sehr sich Miles Davis über dieses Leser-Votum verwunderte, so war er doch nicht ganz unschuldig daran, dass ein gerade mal eben 22-jähriger Saxophonist den Titan Charlie Parker auf die Plätze verdrängte. Denn ein Jahr zuvor war Davis mit dem fast gleichaltrigen Wunderknaben Konitz ins Studio gegangen, um mit ihm eine der epochalsten Jazz-Platten überhaupt aufzunehmen. »Birth of the Cool« hieß das Manifest, bei dem nicht mehr hitzige Bebop-Schlachten ausgefochten wurden. Wohltemperiert bis hin zur coolen Relaxtheit breitete hier ein mit schwarzen und weißen Musikern besetztes Nontett seinen federnden Swing aus – dabei Konitz, der dem Alt-Saxophon mit ätherischer Eleganz ein wahrhaft neues Herz-Rhythmus-System implantiert hatte.
»Es war nett mit Miles.« Auf diese abgeklärte, griffig knappe Formel bringt Lee Konitz heute seine Erinnerungen an das offiziell erste – wichtige – Kapitel seiner Karriere. Ins Schwärmen kommt Konitz dagegen, wenn er über jemanden spricht, dem er sein eigentliches musikalisches Denken und Fühlen verdankt: Lennie Tristano. Der mythisch verehrte Eigenbrödler am Klavier und Cool-Jazz-Vordenker gab dem Teenager Konitz den entscheidenden Tipp, um seine ganz eigene Saxophon-Stimme zu finden und zu kultivieren: »Versuch’ nicht, wie Charlie Parker zu spielen.« Dafür büffelte Konitz mit Tristano die Bibel des Jazz, das »American Songbook«, durch. In den Standards von George Gershwins »Summertime« bis zu Duke Ellingtons »Mood Indigo« fand er jenes Vokabular und Gespür für die Kunst der Improvisation, dem er bis auf einige wenige Ausnahmen treu geblieben ist. »Nach meinem Gefühl sollte ein Song als Vehikel für musikalische Variationen dienen«, sagt er etwas sperrig.
Das Unbekannte im Altvertrauten herauszulösen, hat sich somit zu einer künstlerischen Lebensaufgabe entwickelt. Bei einem Musiker, der dafür viele, aber eben nicht alle Register des Jazz zieht. Vielmehr springen bei Konitz’ Neubelichtungen der guten alten Jazz-Nummern auch jene kontrapunktischen Verflechtungen ins Ohr, die ihre Wurzeln in der Klassik und speziell beim Über-Fugen-Vater Johann Sebastian Bach haben. »Der Mann war unglaublich!«, postuliert Konitz salopp, nachdem er mit Lennie Tristano und dem Tenor-Saxophonisten Warne Marsh immer wieder Bachs zwei- und dreistimmige Inventionen bei gemeinsamen Konzerten untergeschmuggelt hatte. Das unbedingte Formbewusstsein ist für Konitz daher ein passgenauer Schlüssel, um das Tor zum bislang Ungehörten aufzuschließen. Ebenso wichtig ist gleichzeitig jene Sensibilität für den Moment, in dem sich Phantasie und Spontaneität miteinander verbünden. Auch hier wurde für ihn Tristano zum maßgeblichen Katalysator. Lange bevor die Free-Jazz-Welle in Person eines Ornette Coleman die Szene überrollte, war Konitz (im Jahr von »Birth of the Cool«) mit dem Tristano-Sextett ins Studio gegangen, um erstmals in der Jazz-Geschichte heftig brodelnde Kollektiv-Improvisationen einzuspielen.
Wer derart den Jazz-Puls mitbestimmt hat, muss entsprechend weltweit Schule gemacht haben. Tatsächlich bekannte sich schon in den 1950er Jahren Albert Mangelsdorff, Konitz-Fan zu sein, als er versuchte, dessen typischen Sound auf seine Posaune zu übertragen. Neben den inzwischen über 150 Alben, die Konitz mit ganz unterschiedlichen Größen wie Paul Bley, Jimmy Giuffre und Attila Zoller aufgenommen hat, ist er längst auch begeisterter Pädagoge, der sein Anliegen so formuliert: »Mir geht es um melodische Entwicklung, darum, wie man von einem Ton zum nächsten kommt.«
Das vorsichtige Vorantasten von Note zu Note, gepaart mit seinem einzigartig facettenreichen, aber nie berechenbaren Klang, hat Konitz zwar ein Denkmal in der Ruhmeshalle des Jazz eingebracht. Doch seine Laufbahn verlief nicht so reibungslos, wie man es bei dem – neben Sonny Rollins einflussreichsten – lebenden Jazz-Saxophonisten erwarten dürfte. Als die Cool-Jazz-Ära Anfang der 60er Jahre etwas außer Mode gekommen war, musste der 1927 in Chicago geborene Konitz sich den Lebensunterhalt als Tapezierer und Gärtner verdienen. Die richtig großen Plattenverträge bekamen irgendwie immer nur die anderen. Inzwischen hat ihn aber gerade die Jazz-Generation, etwa um etwa den amerikanischen Tasten-Dandy Brad Mehldau, wiederentdeckt.
Besonders in Köln, wo Konitz vor seinem Umzug nach New York jahrelang gelebt und gearbeitet hat, duelliert er sich in schöner Regelmäßigkeit und in aller Freundschaft mit ehemaligen Studenten. So wie in seinem neuen Quartett, für das er mit Thomas Rückert (Klavier), Henning Gailing (Bass) und Schlagzeuger Drori Mondlak zwei originale und einen Wahl-Kölner engagiert hat. Weil die finalen »Birth of the Cool«-Sessions vor exakt 60 Jahren stattfanden, tritt Konitz mit den Kollegen nun eine Zeitreise zurück nach vorn an. Als letztes Mitglied alive der damaligen Band entflammt der 82-Jährige erneut das kühle Ideen-Feuerwerk von einst: ob beim soghaften Swing in »Move«, ob mit den verwinkelten Fanfaren à la »Budo« oder in »Deception« die kontrapunktischen Seitengedanken. Ist da dann der Einfluss Lennie Tristanos unüberhörbar, verstößt Konitz aber mittlerweile längst gegen jenen Ratschlag, den sein Mentor ihm mit auf den Weg gegeben hatte. »In gewisser Weise glaube ich, dass ich wie Charlie Parker spiele. Ich versuche, jene Reinheit des Klangs und des Swing zu erreichen, die ich in seinen besten Aufnahmen höre.« //
Altes Pfandhaus Köln, 21. Februar 2010; www.altespfandhaus.de