Wenn Karim Asir in Bochum unterwegs ist, dann wird er nicht selten von Landsleuten erkannt. Zum Beispiel vom Hausmeister der ersten Unterkunft, in die er mit seiner Frau und der gemeinsamen, einjährigen Tochter gebracht wurde. »Obwohl ich eine Maske trug, hat er mich erkannt, an den Augen«, erzählt er immer noch überrascht. »Er sagte: ‚Nimm mal die Maske ab und zeig dich.‘ Und dann: ‚Lass dich umarmen! Du bist doch der afghanische Charlie Chaplin!‘«
Tatsächlich wurde Karim Asir in Afghanistan genau in dieser Rolle berühmt. Am Esstisch der Wohnung, die er und seine Familie mittlerweile mit der Hilfe neuer Freunde gefunden haben, erzählt er ausführlich und bilderreich, wie es dazu kam. Die Geschichte spielt sich in der relativ kurzen Zeitspanne der rund 20 Jahre ab, die der Einsatz von USA und NATO in Afghanistan dauerte. Der Großmacht, die sich zu diesem Einsatz durch den Terroranschlag auf das World Trade Center 2001 herausgefordert sah, gelang es bekanntlich nicht, das Land zu befrieden oder eine Demokratie zu etablieren. Trotzdem war in der Besatzungszeit ein anderes Leben möglich.
Für Karim Asir bedeutete es, dass er nach der Schulzeit an der Universität von Kabul (die stets von Sicherheitsleuten bewacht werden musste) Theater studieren konnte. Aus den Disziplinen des Studiengangs wählte er Schauspiel als Schwerpunkt. Einer seiner Professoren hatte an der Berliner Hochschule »Ernst Busch« studiert, die auch einen bekannten Puppenspiel-Studiengang hat. So kam er auch mit dieser Theaterform in Berührung. »Als der Professor mich am ersten Tag sah, sagte er mir: Du gehst wie Charlie Chaplin«, erinnert sich Karim Asir. Er antwortete ihm: »Und ich möchte berühmt werden wie er.«
Afghanischer Chaplin auf YouTube
Im Iran hatte er viele Chaplin-Filme wie »Der große Diktator« gesehen. Teilweise auf Video, teilweise liefen sie dort im normalen Fernsehprogramm. Der angehende Schauspieler war also vertraut mit der Figur des Tramp, die der britische Komiker vor über 100 Jahren in den USA erfand: Ein Mann mit Gehstock, zu großen Klamotten und Schuhen, zu kleiner Melone und kurzem Schnurrbart. Ein Landstreicher, ein Herumtreiber, der fortwährend in Schwierigkeiten gerät, aber ein großes Herz hat und stets seine Würde bewahrt.
Mithilfe seiner Dozenten und Mit-Studierenden gelang es Karim Asir 2018 die Figur eines afghanischen Charlie Chaplin zu entwerfen und mit ihr erste Videos zu drehen, die bis heute im Youtube-Kanal »Afghan Charlie Chaplin« gesammelt sind. In ihnen widmet er sich typischen Alltagsproblemen aus dem Kabul dieser Zeit. Fast eine Million mal geklickt wurde etwa der Clip, in dem die Tramp-Figur versucht, einen Anwohner davon abzuhalten, seinen Müll einfach auf die Straße zu werfen. Im klassischen Slapstick-Stil liefert er sich einen komischen Kampf um den Müllsack – und bringt ihn am Ende zur Müllstation, an der alles überquillt.
Der afghanische Charlie Chaplin brachte Karim Asir landesweite Bekanntheit. Ein privater Fernsehkanal strahlte regelmäßig seine Videos aus. Mit der Unterstützung des Goethe-Instituts und der deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit konnte er selbst Theaterangebote machen, um für soziale Probleme zu sensibilisieren, und sich mit ihnen auch an ärmere Menschen richten. Über den Youtube-Kanal »Kabul Fans« sammelte er außerdem Spenden für Familien, die in ökonomischen Schwierigkeiten waren – etwa, weil die Frauen ihre Männer verloren hatten.
Kurzum: Karim Asir konnte in Afghanistan zwischen Kabul und der Provinz Parwan, wo seine Eltern wohnten, ein Leben zwischen Kunst und sozialem Engagement leben. Er wurde auch selbst Lehrer und machte einen Master in Virtual and Performance Arts. Alles lief den Umständen entsprechend gut – und zu den Umständen gehört, dass Überfälle der Taliban stets eine reale Gefahr waren – bis zu diesem Tag im August 2021, an den sich der Schauspieler noch sehr genau erinnert: »Ich war in einem Copy Shop«, erzählt er. Von weitem hätten sie die Taliban mit ihren Liedern und Fahnen heranmarschieren sehen.
Der Besitzer warf sofort alle Kunden heraus, schloss seinen Laden ab und Karim Asir wusste: »Das ist das Ende.« Schon vor der Machtübernahme der Taliban hatte er einen Drohbrief von ihnen erhalten. Nach der Ermordung des afghanischen Comedians Khasha Zwan hatte er der BBC ein Interview gegeben, in dem er die Tat zu einem Alarmsignal nicht nur für Komiker, sondern generell für Künstler im Land erklärte. Aufgrund dieses Interviews drohten ihm die Taliban ebenfalls mit dem Tod, wenn er nicht aufhöre, Schlechtes über sie zu verbreiten und den »nicht-muslimischen« Charakter des Charlie Chaplin zu spielen.
Schläge für Tanz- und Musikszenen
Seit der erneuten Machtübernahme im August 2021 konnte Karim Asir seiner Kunst, Lehrtätigkeit und Studien nicht mehr nachgehen und begann ein Versteckspiel. Er ließ sich einen langen Bart wachsen und trug eine Kopfbedeckung wie die Taliban. Über seine verschiedenen Kontakte ins Ausland und insbesondere nach Deutschland begann er, die Flucht für sich und seine Familie zu organisieren. Bange Monate standen bevor.
Zwei Kontakte sollten ihm dabei besonders zugute kommen: Der zur griechischen Filmemacherin Anneta Papathanassiou, die noch vor der Machtübernahme mit den Dreharbeiten zur Doku »Laughing in Afghanistan« begonnen hatte, und der zum indischen Figurenspieler Dadi Pudumjee, auf dessen Festival er einmal gespielt hatte. Pudumjee ist auch Präsident der Internationalen Puppenspieler Vereinigung UNIMA – dessen Vize-Präsidentin wiederum Annette Dabs ist, die in Bochum das Internationale Figurentheater-Festival Fidena leitet.
»Ich habe alles in Bewegung gesetzt, was mir an Netzwerk zur Verfügung steht«, sagt Dabs heute. Das Goethe-Institut, das Auswärtige Amt, der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert aus Bochum – viele Hebel griffen ineinander, um Karim Asir die Flucht zu ermöglichen. Trotzdem erlebte er dramatische Wochen, in denen seine Familie mehrmals kurz vor dem Abflug doch nicht die Flugzeuge besteigen durften, die sie in Sicherheit gebracht hätten. Am Ende bestand die einzige Möglichkeit darin, zu Fuß über die Grenze nach Pakistan aus Afghanistan herauszukommen.
»An der Grenze griffen mich die Taliban auf und entdeckten meinen Laptop«, erinnert sich Karim Asir und schildert schlimme Szenen, in denen seine Dateien durchsucht wurden und er immer wieder Schläge erhielt, wenn etwa Fotos oder Videos mit ihm bei Tanz- oder Musik-Szenen zu sehen waren. Irgendwann wurden ihm die Augen verbunden, ein Taliban hielt ihm eine Waffe an den Kopf und er fühlte sein Ende nahen. Die Rettung kam überraschend in Form eines älteren Mitglieds der radikalen Islamisten, der die Anweisung gab, niemanden zu töten. Offenbar, weil es keine Notwendigkeit mehr gab, Angst und Schrecken zu verbreiten: Die »Fremden« seien jetzt weg aus dem Land.
Wenn man den 28-Jährigen in seiner Bochumer Wohnung sitzen sieht als Teil eines jungen und offenbar glücklichen Elternpaares, dann ahnt man, dass er diese Szenen so schnell nicht vergessen wird. Doch er schaut auch optimistisch in die Zukunft, freut sich, in Bochum in einer Stadt mit einem guten Theater und einer guten Universität zu sein, und freut sich auf seine Mitwirkung am Festival Fidena, wo er unter anderem am 12. Mai ab 18 Uhr einen Afghanischen Abend im Festival-Zentrum an der Jahrhunderthalle Bochum gestalten wird – und sicher auch wieder in die Rolle des Charlie Chaplin schlüpfen.
Fidena kehrt nach vier Jahren zurück
Wegen des zweijährigen Turnus musste das Ruhrgebiet jetzt bald vier Jahre ohne Fidena auskommen. Vom 7. bis 18. Mai findet das internationale Figurentheaterfestival nun endlich wieder statt an Spielstätten in Bochum, Hattingen – und wegen einer Kooperation mit den Ruhrfestspielen auch in Marl und Recklinghausen. Eine Uraufführung, eine europäische und zwei deutsche Erstaufführungen gehören zum Programm, die Bochumer Jahrhunderthalle ist erstmals Festival-Zentrum und Spielort des Rahmenprogramms. Unter dem Motto »Befragung der Welt« sind an insgesamt neun Spielorten Stars wie Ronnie Burkett, Neville Tranter, Nikolas Habjan, Dries Verhoeven, Miet Warlop und die Familie Flöz zu erleben.
12. Mai, Afghanischer Abend in der Jahrhunderthalle Bochum (Pumpenhaus) mit Karim Asirs Kurzfilmen und einem Gespräch mit der griechischen Regisseurin Anneta Papatanassiou über ihren Dokumentarfilm »Laughing in Afghanistan«.