TEXT: STEFANIE STADEL
Nachdenklich schaut der junge Mann aus dem Bild heraus. Oder doch vielleicht eher in sich selbst hinein? Dazu passt seine klassische Denkerpose – das Kinn gewichtig in die stützende Hand gelegt. Der Maler trägt die Farben pastos auf und macht damit klar, dass er auch mit Methoden der frühen Moderne vertraut ist. Keine Selbstverständlichkeit, denn Max ist gerade mal 18 Jahre alt, als er sich 1909 so gedankenverloren in Szene setzt. »Ohne Schaden an seiner Seele« hat er nach eigenem Bekunden »die Wonnen und Gräuel der wilhelminischen Erziehungsmethoden in der Seminar-Übungsschule zu Brühl und im Städtischen Gymnasium« überstanden.
Das Selbstporträt zeigt Max Ernst am Beginn eines neuen Lebensabschnitts: Hinaus aus der kleinen Heimatstadt Brühl führt er den jungen Mann zum geisteswissenschaftlichen Studium ins benachbarte Bonn. Während der neun Semester dort erfährt er prägende Einflüsse. Jene Jahre bis 1914 sind es, die jetzt im Max Ernst-Museum interessieren: Die Inkubationszeit des später weltberühmten Künstlers ist Thema der großen Ausstellung dort.
Germanistik, Romanistik, Psychologie, Psychiatrie und vor allem Kunstgeschichte stehen auf dem Stundenplan. Aber das ist längst nicht alles. Nebenbei begibt der junge Student sich auf die Suche: Er sieht Kunst, alte und zeitgenössische; er lernt wegweisende Künstler kennen, schreibt Kunstkritiken. Und natürlich malt er weiter. Begonnen hatte Max Ernst damit bereits in Brühl. Das Selbstbildnis des 18-Jährigen zeugt von ersten hoffnungsvollen Schritten.
»Mäßiges Einkommen viele Kinder, viele Sorgen«, so sein Resümee der Zeit im Elternhaus an der Schlossstraße. Den Umgang mit Pinsel und Farbe hatte er dort vom Vater erlernt: Philipp Ernst war Taubstummenlehrer, sammelte nebenbei Schmetterlinge und betätigte sich als technisch versierter Hobbykünstler. Anders als dem Vater, dies belegt die Schau, war dem Sohn schon damals nicht so sehr an einem möglichst getreuen Bild der äußeren Wirklichkeit gelegen. Sehr früh versuchte Max, die selbst empfundene Stimmung ins Bild zu bringen – offensichtlich in seiner »Studie aus dem Brühler Park« von 1909.
In Bonn nun beschleunigt sich die Entwicklung: Max Ernst stellt seine Sinne auf Empfang. Dabei vermeidet er nach eigener Aussage »sorgfältig alle Studien die zum Broterwerb ausarten können. Er malt. Verschlingt wahllos alles was ihm an Literatur in die Hände fällt. Lässt sich von allem beeinflussen, lässt sich gehen, nimmt sich wieder zusammen usw. Resultat: Chaos im Kopf. Auch in der Malerei: Seine Augen trinken alles, was in den Sehkreis kommt«.
Es waren wohl durchaus widerstrebende Eindrücke. Schien die Szene doch zum einen durchdrungen von der sehr konservativen, offiziellen Kunstauffassung spätwilhelminischer Zeit und zum anderen bestimmt durch die vielfältigen avantgardistischen Neuigkeiten der Klassischen Moderne.
In der Ausstellung verweisen etwa Gipse aus der Abguss-Sammlung des kunsthistorischen Instituts auf die konservativen Lehrinhalte an der Bonner Universität. Viel wichtiger aber als solche alten Relikte werden für Max Ernst die Vorreiter der Moderne und wegweisende Zeitgenossen, die er persönlich kennenlernte oder deren Werke er in Ausstellungen damals bewundern konnte.
Ganz besonders in der epochalen Kölner Sonderbundausstellung, die 1912 die europäische Moderne unters Volk bringen wollte. Mit rund 130 Bildern aller Schaffensphasen war Vincent van Gogh der Star im aufregenden Aufgebot dieser großen Schau und weckte offenbar besonderes Interesse beim jungen Max Ernst. Als Beleg seiner Begeisterung zeigt man in Brühl nun etwa die »Pingsdorfer Kirmes«, deren bewegter Malgestus deutlich an van Gogh erinnert.
Oder auch die »Eisenbahnunterführung an der Comesstraße«: Diesmal zitiert Max Ernst ein Motiv, das er bei van Gogh sah, und wandelt es eigenständig ab. Durch eine fluchtende Mauer und diagonal kreuzende Telegrafenkabel bringt er mehr Dynamik ins Geschehen. Das alles unter einem Himmel, dessen wirbelnde Bewegtheit van Goghs späten Gemälden abgeschaut sein könnte.
1912 konnte Max Ernst sich auch ausgiebig mit den Werken der Futuristen vertraut machen. In der Kölner Galerie Otto Feldmann, wo mehr als 30 Beispiele dieser Stilströmung zu sehen waren. Ihr Hauptthema: das moderne Leben – Straßen, Hochhäuser, Fabriken, motorisierte Gefährte. Die meisten dieser Zutaten begegnen uns in Max Ernsts »La ville« im Schein elektrischer Straßenbeleuchtung wieder. Unübersehbar ist der futuristische Einfluss auch im »Porträt« einer Dame, deren Gesicht sich inmitten kreisender Strudel einander durchdringender Formen zeigt.
Neben Max Ernsts frühen Werken, die der Ausstellung als Basis dienen, ist einiges aus dem künstlerischen Umfeld zu sehen. Stücke, die Ernst sah, die ihm gefielen oder auch missfielen. Künstler, die ihn inspirierten – Gauguin, Delaunay, Klee, Kandinsky, Macke, Marc, Matisse.
Was ihm das städtische Museum Villa Obernier bot, fand dagegen häufig weniger Zustimmung. Mitunter verlieh Max Ernst seinem Unmut als Kunstkritiker für den Bonner »Volksmund« Ausdruck. Etwa wenn er über den Spätimpressionismus eines Hans-Josef Becker-Leber herzieht mit seinen »faden, langweiligen Impressionen in mattlila, mattrosa, mattblau, mattgrün und ihren rosa parfümierten Blümchen«.
Max Ernst erkannte, was gut war und wichtig werden wird. So hielt er sich lieber an den vier Jahre älteren, in der internationalen Avantgarde-Szene hervorragend vernetzten Macke. Dessen Malerei, so Max Ernst, »schöpfte ihre Kraft aus einer geradezu beängstigenden Ruhe, einer verborgenen Eleganz und unwiderstehlichen, musikalischen Anmut«. Was ihm selbst vage vorschwebte, sei allerdings Mackes Kunst total entgegengesetzt.
Mag sein, trotzdem nimmt Max Ernst einiges an von dem Kollegen. Unmittelbar nachdem die beiden Künstler Freundschaft geschlossen hatten, finden etwa Mackes elegante Damen Eingang in das Werk des Jüngeren. Ebenso wie die für Mackes Figurenbild typischen schwungvollen Linien.
Bei Macke zu Hause machte Max Ernst auch die folgenreiche Bekanntschaft mit Robert Delaunay. Der Franzose und seine Farbmalerei standen damals hoch im Kurs bei fortschrittlich gesinnten Zeitgenossen und ließen auch ihn nicht unberührt. Zu erahnen ist der Einfluss mit Blick auf die Farbigkeit – etwa in Max Ernsts »Kampf der Fische«. Oder auch im Aquarell »Von der Liebe in den Dingen«, das Delaunays kontrastreichem Farbklang mit den kubistischen Ideen eines Picasso zusammenbringt.
Seine »Augen trinken alles« und geben sich besonders gierig, wenn es um avantgardistische Äußerungen geht. Max Ernst macht sich das Neue zu Eigen, aber nicht einfach so. Es wird abgewandelt, umgemünzt, neu interpretiert und zuweilen kühn kombiniert – auch mit Elementen, die den Künstler an außereuropäischen oder Jahrhunderte alten Objekten faszinieren. Eindrücklich in seiner »Kreuzigung« von 1913, die deutlich an den Manieristen El Greco anknüpft, aber auch Einzelmotive des deutschen Renaissancemalers Matthias Grünewald aufgreift, um sie in eine kubo-futuristisch zergliederte Landschaft zu verpflanzen.
Im Sommer 1914 endet für Ernst die inspirierende Studienzeit in Bonn: Der Künstler meldet sich freiwillig zum Kriegsdienst. Mit den vielen Eindrücken im Kopf wird er danach eigene Wege beschreiten – von Dada zum Surrealismus. »Max Ernst stirbt am 1. August 1914«, so stellt er selbst rückblickend fest. »Er kehrte zum Leben zurück am 11. November 1918 als junger Mann, der ein Magier werden und den Mythos seiner Zeit finden wollte«.
Max Ernst Museum Brühl des LVR, 23. Februar bis 29. Juni 2014. www.maxernstmuseum.lvr.de