Im Schlussbild hängt der Goldschmied Cardillac wie der Gekreuzigte im Bühnenhimmel, im Hintergrund fragt ein Prospekt »Wozu Kunst?«. Dazu lassen das Orchester, der Chor und aus den Logen Angela Davis und Milen Bozhkov Hindemiths Schlussgesang sakral erstrahlen. Es ist ein großes Bild, das Regisseur Jochen Biganzoli da an das Ende seiner Inszenierung setzt. Eines in einer ganzen Reihe von Bildern, denn in Hagen ist »Cardillac« weniger ein spannender Krimi, als ein szenischer Essay über Kunst und Verbrechen.
Das hat durchaus seinen Ursprung in der dramaturgischen Struktur der Oper. In der Urfassung von 1926, die hier gezeigt wird, verknappten Paul Hindemith und sein Librettist Ferdinand Lion die Erzählung »Das Fräulein von Scuderi« von E.T.A. Hoffmann auf das Nötigste. Auf eine Folge kurzer Szenen und typenhafte Charaktere. Das folgt mehr der Logik des expressionistischen Theaters, als einer Bauhaus-Tradition, in die die Oper in Hagen wegen des allgegenwärtigen Jubiläums gestellt wird. Auch Hindemiths Musik wirkt in ihrer kontrapunktischen Technik scharfkantig expressiv.
Mit weißen Plastikfolien abgehängt
Wolf Gutjahr hat eine Spielfläche im vorderen Bühnendrittel mit weißen Plastikfolien abgehängt. Das sieht aus, als hätte Patrick Bateman sein schickes Loft in New York gerade für die nächste Blutorgie vorbereitet. Anders als in der Verfilmung von Bret Easton Ellis’ Roman »American Psycho«, bleibt in Hagen der Raum allerdings sauber. Die einzige Mordtat Cardillacs, die in der Oper auf der Bühne passiert, wird gar nur per projiziertem Text der Regieanweisung gezeigt.
Cardillac ist auf der einen Seite Goldschmied, der mit seinem Handwerk Geld verdienen muss. Auf der anderen Seite aber ein genialer Künstler, der seine Werke nicht der Welt übergeben mag. Beides zusammen lässt ihn zum Verbrecher werden, der sich seine verkauften Schmuckstücke durch Mord zurück holt. Der erste Akt der Oper »Cardillac« ist durchaus auch konsumkritisch zu lesen. Wie ein Weihnachtsbaum mit Einkaufstüten behängt, auf denen Luxus-Designer-Embleme prangen, steht »Die Dame« (Veronika Haller) auf der Bühne und fordert vom »Kavalier« (Thomas Paul) den letzten Schritt, um ihre Liebe zu gewinnen: Ein Schmuckstück von Cardillac, »Love for sale«, wohlwissend, dass dies Lebensgefahr für den Käufer bedeutet. In ihrem goldenen Pailletten-Jumpsuite mit Kapuze sieht sie aus wie Grace Jones, Ikone einer Discokultur, die ästhetische Perfektion bis in die irreale Künstlichkeit trieb.
Zitate von Walter Gropius
Herzstück der Inszenierung sind nicht so sehr die szenischen Bilder, sondern die Textprojektionen. Vor allem Zitate aus Künstlermanifesten sind es, die das Thema von Sinn und Nutzen, Ethik und Grenzen der Kunst umkreisen. Der italienische Futurist Marinetti, der Krieg als die einzige Hygiene der Welt bezeichnete, ist vertreten, genauso wie Wolf Vostell. Marina Abramovic verkündet als Meisterin der künstlerischen Selbstkasteiung »Art must be beautiful«. Dazu schlagen Zitate von Walter Gropius die Brücke zur Bauhaus-Analogie. Am überraschendsten ist da vielleicht das unzeitgemäße Pathos in einem Zitat von Kunsthistoriker Götz Adriani aus dem Jahr 2019.
Diese Texte, die Bühnenbildner Wolf Gutjahr zusammen gestellt hat, öffnen die Assoziationsräume, in denen sich nicht nur die Urheber der Zitate tummeln. Auch Ritual- und Opferkünstler Hermann Nitsch, Marc Quinn, der ein Abbild seines eigenen Kopfes aus seinem Blut schuf, die Erzählung von Kunstmorden, die David Bowie auf seinem Konzeptalbum »Outside« liefert, Roald Dahls Geschichte »Skin« oder die zahllosen Film-Serienmörder, die ihre Morde als intellektuelles Spiel ohne Motiv, als l’art-pour-l’art inszenieren, schwingen hier mit.
Beeindruckend: das Philharmonische Orchester Hagen
Zumeist sind die szenischen Bilder dazu treffsicher, gelegentlich geraten sie Biganzoli sehr plakativ, manchmal vielleicht etwas überdeutlich. Im Zusammenspiel mit den Texten ist das durchaus vertretbar. Bleibt die Musik. Hindemith fordert mit seiner komplexen Kontrapunktik höchste Konzentration vom Orchester. Gerade von der Bläser-Gruppe auch eine enorme Ausdauer, selbst bei nur knapp eindreiviertel Stunden pausenloser Spieldauer. Das Philharmonische Orchester Hagen schlägt sich hier unter Joseph Trafton beeindruckend. Ganz selten wackelt das Zusammenspiel oder die Intonation. Chor und Extra-Chor unter Wolfgang Müller-Salow bescheren dem Abend seinen gewaltigen Beginn und das erhabene Ende. Thomas Berau singt einen sehr weichen, fast schmeichelnden Cardillac, was die Rolle umso zwielichtiger und gefährlicher macht. Neben den bereits genannten sind Ivo Stánchev und Kenneth Mattice zu hören. Allen gemeinsam ist, dass sie sich mit großem Engagement in die Hindemith’sche Partitur werfen und auf ganzer Linie erfolgreich sind. Eine rundum gelungene Produktion, um dieses seltener gespielte Stück kennenzulernen.
Weitere Termine: 10. und 13. November, 10., 16. und 26. Januar 2019, www.theaterhagen.de