»Kommt, wir wollen uns begeben / jetzo ins Schlaraffenland.« Freudig ruft August Heinrich Hoffmann von Fallersleben 1836 zum Aufbruch: »Seht da ist ein lustig Leben / und das Trauern unbekannt.« Etwas anders sieht es im Kunstverein Dortmund aus, wo zehn Künstler*innen und Gruppen das vermeintliche Schlaraffenland unserer Gegenwart bespiegeln und Fragen zu Fluch und Segen des urbanen Wohlstands stellen.
»Knusprige Hähnchen« ist auf der randvollen Tüte zu lesen. Die oben heraustropfende Chicken-Teriyaki-Sauce bildet schon eine kleine braune Pfütze am Boden. Das mehr oder doch eher weniger appetitliche Riesenfoto von Alwin Lay verklebt die ganze große Scheibe neben dem Eingang des Kunstvereins Dortmund und könnte in die Irre führen. Nein, hier ist kein Imbiss eingezogen. Das Ausstellungshaus gleich neben dem U gibt sich nur vorübergehend als Schlaraffenland aus. So zumindest titelt dort die aktuelle Ausstellung, in der man Milch und Honig von den Wänden rinnen sieht und beim Erklimmen der Wendeltreppe an einem dick mit Zuckerwerk ummantelten Handlauf Halt findet. Bei all dem allerdings kaum paradiesische Sorglosigkeit verspüren wird.
Knusprig, cremig oder klebrig? Das ist eigentlich egal. Denn beim Rundgang durch das von zehn zeitgenössischen Künstler*innen und Gruppen bestückte Schlaraffenland unserer Tage dominiert doch immer wieder der unangenehme Beigeschmack.
Gleich beim Eintreten, wenn Hannah Levy, quasi als Beilage zum asiatisch aufgepeppten Geflügel aus der Tüte, einen Mammutspargel serviert. Es hat fast etwas Aggressives, wie die beiden hochglänzenden Metallkrallen das müde Prachtexemplar aus Silikon umklammern und vorführen. Der Spargel seinerseits lässt sich hängen: ein trauriges Produkt der seelenlosen Lebensmittelindustrie. Dies wäre zum Beispiel ein Gedanke, der einem bei diesem Anblick in den Kopf schießen könnte: Dünger, Insektizide, Optimierung um jeden Preis und die Ernte durch Helfer*innen, die sich um unseren Genuss mühen und nicht einmal den Mindestlohn dafür bekommen. Es schöpft eben nicht jeder aus den Vollen in diesem Schlaraffenland.
Nicht erst gestern geriet sie in Verruf, die uralte Utopie vom idealen Ort ohne Hunger, ohne Mangel, ohne unerfüllte Bedürfnisse, ohne Arbeit, ohne Altern. Die kritische Sicht aufs Schlaraffenland hat sozusagen Tradition, ist sie doch mindestens so alt wie der Begriff selbst. Der leitet sich nämlich aller Wahrscheinlichkeit nach von »slur« ab, was so viel wie Faulenzer bedeutete und sich im 14. Jahrhundert zu »sluraffe« weiterentwickelte, womit ein üppig und gedankenlos lebender Müßiggänger gemeint war.
Pieter Bruegel der Ältere führte um 1567 in das bis heute wohl berühmteste Schlaraffenland der Kunstgeschichte. Sein gleichnamiges Gemälde gehört zu den Highlights in Münchens Alter Pinakothek. Pfannekuchen satt, ein See voll Milch und der Zaun aus Würstchen treten hier in den Hintergrund, denn wichtiger nimmt der Maler die negativen Folgen des grenzenlosen Genusses: Bauer, Ritter und Gelehrter, alle liegen sie vollgefressen und regungslos unterm Baum. Die moralisierenden Absichten sind offensichtlich bei Bruegel.
In Dortmund möchte man dagegen nicht belehren, sagt Kuratorin Linda Schröer. Allerdings kommt die Schau bei diesem Thema kaum herum um gesellschaftskritische Töne. Wer im Schlaraffenland der westlichen Industrieländer lebt, weiß, wie viele Angriffsflächen es bietet: überquellende Supermarktregale, Essen, das krank und dick macht, Obst und Gemüse – unabhängig von Region, Saison und CO2-Fußabdruck, all-you-can-eat und tonnenweise Lebensmittel, die im Müll landen.
Dazu passt der lange Schlaraffenland-Vorhang, den Julia Gruner eigens für die Schau geschaffen hat – eine Art Neuauflage des Niederländischen Stilllebens, wie das 17. Jahrhundert es liebte. Damals waren es Käse und Brot, Wein und Wild, Fisch oder Früchte, die mit malerischer Finesse auf der Leinwand angerichtet wurden. Heute benutzt Gruner nun Scanner und Drucker, um ihr zeitgenössisches Lebensmittel-Potpourri auf recyceltem Plastikmaterial zusammenzuwürfeln: Bacon und Smarties, Sushi neben Gummibärchen, Garnele und Biskuitrolle.
Viel über unser Verhältnis zum Essen erzählen auch jene Perversionen, wie sie mit YouTube in Umlauf kommen – die Auswüchse des Mukbang bieten das beste Beispiel. Die Idee kommt aus Südkorea: Um der Einsamkeit am Esstisch entgegenzuwirken, trifft man sich virtuell und nimmt am Bildschirm gemeinsam seine Mahlzeiten ein. Mittlerweile ist das soziale Format allerdings vielfach zum Fressgelage ausgeartet. YouTuber schaufeln schmatzend bis zum Gehtnichtmehr, verabschieden sich vom Normalgewicht, allein um Klicks und Likes zu generieren.
Julia Gruner hat sich mit Liza Dieckwisch zum Duo »Artist Mukbang«, zusammengetan, um dieses seltsame Phänomen künstlerisch zu bespiegeln. Von »Chicken in Aspic« über die »Family Pizza« bis zum »Giant Pudding Mochi« reicht ihr mit über 20 Positionen gefüllter Video-Speiseplan. Wobei das Setting auch farblich fein abgestimmt wird auf das jeweilige Gericht: Rund um den Erbsen-Berg ist alles knallgrün. Und der langsam dahinschmelzende Eiscreme-Block mit blauen Streifen wird vor heiterem Himmel vernascht. Allein vom Zuschauen dreht sich einem der Magen um.
Ein flaues Gefühl macht sich auch angesichts einer Rechnung breit, die eingerahmt an der Wand des Ausstellungsraumes hängt. Sie stammt von einem Caterer, der sonst ausschließlich Passagiere von Privatjets verköstigt und für 85 Canapés 1250 Euro aufruft. Das Schriftstück und der Stehtisch davor erinnern an Belia Zanna Geetha Brückners Performance am Eröffnungsabend: Zwei Schauspieler*innen schwärmten mit den teuren Häppchen auf Schiefertabletts aus und suchten unter den Vernissage-Gästen im Dortmunder Kunstverein ihre Opfer. Wer das angebotene Canapé ablehnte, musste anschließend mitansehen, wie die Kostbarkeit geradewegs im Müll landete. Diese Provokation musste sein, erklärt Kuratorin Linda Schröer fast entschuldigend, sonst hätte es nicht funktioniert.
Zum Abschluss des Schlaraffenland-Menüs wartet auf der ersten Etage Espresso ohne Ende – wiederum angerichtet von Alwin Lay, bekannt vom knusprigen Hähnchen to go vor der Tür. Für den Bilderzyklus »mod Classic« hatte der Künstler aus Köln seine Kaffeemaschine in eine wasserdichte Vitrine gesetzt und Foto für Foto ihren Untergang dokumentiert: Man kann zuschauen, wie sich der teure Automat beim ungebremsten Brauen langsam, aber sicher selbst ertränkt. Am Ende ist die Vitrine ein kaffeebrauner Würfel. Das war’s dann wohl – kein Kaffee mehr für Sluraffen.
Dortmunder Kunstverein
Bis 22. Dezember