TEXT: KATJA BEHRENS
Sie zeigt Leute auf der Straße, Betrunkene, Kinder. Porträtiert Missbrauchsopfer und Täter, Mitwirkende einer Reality-TV oder einfach Freunde, die eigene Familie oder ein Kunstwerk – in ihren Foto- und Videoarbeiten erforscht Gillian Wearing immer wieder aufs Neue die komplexen Zusammenhänge menschlicher Beziehungen, untersucht den intimen Widerspruch zwischen Identität und Rolle. Sie verwendet Maskierungen und Verkleidungen, schneidet Ton- und Bildspuren neu zusammen, setzt Schauspieler ein oder sich selbst eine Maske auf. Einige Arbeiten nehmen Menschen in den Blick, deren Gefühle und Psyche bis zum Äußersten angespannt sind, andere sind in ihrem alltäglich-banalen, gesellschaftlich vorgeprägten Verhalten gefangen.
Drei Videoarbeiten sind vielleicht die eindringlichsten der vielen Serien in der großen Überblicksschau zum Werk von Gillian Wearing in der Düsseldorfer K 20: »Secrets and Lies« (2009), »Trauma« (2000) sowie ein schon 1994 entstandenes Projekt, das als Titel den Text der Zeitungsannonce trägt, mit der die Künstlerin Mitwirkende suchte: »Confess All On Video. Don’t Worry, You Will Be In Disguise. Intrigued? Call Gillian …«. Wer »interessiert« war, konnte sich »verkleiden« und enthüllt nun, verborgen hinter Masken, Perücken oder falschen Bärten, heimliche Wahrheiten seines Lebens. Die Gesichter bleiben meist starr, die Bekenntnisse, die zu hören sind, bewegen hingegen umso mehr. Da geht es um intime Details, um Verfehlungen und Übergriffe, um Obsessionen, Diebstahl, Gewalt oder seelische Grausamkeiten sowie sexuelle Fantasien. Da berichtet eine Frau, wie sie sich an ihrem untreuen Liebhaber gerächt hat, eine andere erzählt von jahrlang erduldeten Erniedrigungen und ihren eigenen Verstrickungen in das unselige Verhältnis. Ist das Bedürfnis, sich endlich ungestraft selbst bezichtigen zu können, übermächtig geworden? Ist die Last der Erinnerung zu groß? Oder sind es vielleicht Fotoapparat, Kamera und Mikrofon, die die Menschen zu Darstellern ihrer selbst werden lassen?
Anfang der 1990er Jahre realisiert die 1963 in Birmingham geborene Künstlerin eine Serie, mit der sie schlagartig berühmt wird: Sie bittet Passanten auf der Straße, auf einem Blatt Papier aufzuschreiben, was ihnen gerade durch den Kopf geht, wie sie sich fühlen, wonach sie streben, egal was – »Signs that Say What You Want them to Say and Not Signs that Say What Someone Else Wants You to Say« nennt sie das Projekt. Die Ergebnisse sind manchmal vorhersehbar, mitunter harmlos, dann aber auch bestürzend. »It’s going to get worse«, steht auf einem der zum Bekenntnisschild erhobenen Zettel, ein anderer unterrichtet davon, dass der Passant, der es vor sich hält, als »ein bisschen geistig behindert« gilt. Er hat ein Tattoo auf der Stirn. Der ordentlich frisierte junge Mann, der »verzweifelt« aufgeschrieben hat, wird zum Lieblingsmotiv der Medien, lässt sich doch hier aufs Schönste deutlich machen, was die Künstlerin eigentlich tut: Sie schafft eine Bühne, auf der die Leute ehrlich sein können, wenn sie wollen. Wenn nicht, können sie sich verstellen oder maskieren.
Diese Schnittstelle von privat (sehr privat manchmal) und öffentlich wird ein durchgängiges Motiv der Arbeiten Gillian Wearings bleiben. Ein anderes ist die Reflexion über das Medium Film und Fotografie sowie die Möglichkeiten der Manipulation – so in »Sixty Minute Silence«, einem Film, der vorgibt, eine Fotografie zu sein und für den Wearing 1997 den renommierten Turner Prize erhält. Hinzu ritt das Nachdenken über die eigene Rolle als Künstlerin, am stärksten wohl in den Selbstporträts, für die Wearing Silikonmasken nach alten Familienfotos oder von Fotografien künstlerischer Vorbilder anfertigen lässt. Sie trägt die Masken, nur um in diesem Spiel mit Identitäten dann selbst wieder zum Foto zu werden: »Self Portrait as My Grandmother Nancy Gregory« oder »Me as Mapplethorpe«.
Wieder auf Anonymität setzt die 1997 entstandene Serie »10-16«, wenngleich es hier keine Masken gibt, sondern Schauspieler. Die Tonaufnahmen der aufgeregten oder betont lässigen Stimmen von Kindern zwischen zehn und 16 Jahren, die an Alkoholismus oder unter Missbrauch leiden, die Todessehnsüchte haben oder aus anderen Gründen unglücklich sind, werden in die Filmaufnahmen erwachsener Mimen eingeschnitten, die so mit Kinderstimmen reden. Da sitzt dann ein kleinwüchsiger Mann nackt auf dem Badewannenrand und erzählt vom Zorn auf seine Mutter, und dass er sie und ihre Freundin am liebsten getötet hätte, als er herausfand, dass sie lesbisch war. Während ein älterer Mann in Anzug und Schlips sich an seine Minderwertigkeitskomplexe, seine Akne und sein Übergewicht erinnert, an die klinische Depression und an seine Erregung, wenn er mit sich selber spielt und sich im Spiegel betrachtet.
So wirken manche dieser Filme durch und durch ergreifend. In der schwarz-weißen Videoprojektion »Prelude« aus dem Jahr 2000 etwa sind die Filmaufnahmen einer inzwischen verstorbenen Alkoholikerin – die Gillian Wearing für ihr großes Trinker-Triptychon »Drunk« zu Probeaufnahmen eingeladen hatte – mit einem Monolog von deren Zwillingsschwester unterlegt. Darin spricht sie über den plötzlichen Tod ihrer Schwester und beklagt die fehlende Empathie der Mutter. Ein bitteres, trauriges Dokument.
Beinah karikaturhaft hingegen erscheinen andere Filme dieser Serie, so etwa die Episode eines Mannes, der auf seinem Sofa herumhampelt und mit heller Kinderstimme von seinem Baumhaus schwärmt. Oder die eines Wartenden an der Bushaltestelle, der einen anderen Dastehenden davon unterrichtet, dass er immer schon gerne Bus gefahren sei, wie auch bereits sein Vater. Ob diese Komik gewollt ist oder unfreiwillig, bleibt letztlich offen.
So wie ununterscheidbar bleibt, wo die sich offenbarenden Menschen in Wearings Arbeiten einfach sie selbst sind. Und wo Teil einer Inszenierung durch die Künstlerin.
Bis 6. Januar 2013. Tel.: 0211/8381-204. www.kunstsammlung.de