Von den beiden großen Oratorien Joseph Haydns wird nur »Die Schöpfung« regelmäßig gegeben, »Die Jahreszeiten« gelten als betulich, die mit Versen Gottfried van Swietens wi »außen blank und innen rein soll des Mädchens Busen sein« nicht mehr recht vermittelbar sind. Doch der Dortmunder Intendant Jens Daniel Herzog übersetzt in seiner szenischen Realisierung den scheinbar banalen Zyklus der Jahreszeiten in einen politisch gesellschaftlichen Kreislauf und gleicht ihn konkret mit der Geschichte der Bundesrepublik nach 1945 ab. Mathis Neidhardt hat ihm dazu eine Mehrzweckhalle gebaut, in der Versatzstücke schnell herein- und herausgeschoben werden.
»Der Frühling« spielt in einer durch Plünderung verwüsteten Szenerie, noch rieselt der Schnee, dann zeigt sich mit weißer Flagge der Lenz nach der Kapitulation, GIs bringen Carepakete, die Kriegswitwen werden anschmiegsam. »Der Sommer« ist die Wirtschaftswunderzeit, gigantische Tafeln lassen schmausen, Stahlkocher die Hochofen glühen, Baby-Boom und traditionelles Familienbild prägen die Realität. »Der Herbst« bringt die zwischen Aussitzen und aufkeimender Angst oszillierende Kohl-Ära, in der sich bereits Ausgrenzungs-Aggressionen zeigen. »Der Winter« schaut mit einem Geschwader von Rollatoren ins Pflegeheim: Vorausblick oder bereits akute Diagnose?
Jens Daniel Herzogs Grundannahme, dass Haydn/van Swieten ein aufgeklärtes, säkulares Werk vorlegten, das auf der Folie des Jahreszeiten-Zyklus jenen unausweichlichen Kreislauf abbildet, der das kollektive Unbewusste einer Gesellschaft steuert, funktioniert erstaunlich schlüssig. Der Zyklus von der Offenheit einer sich neu formierenden Gemeinschaft bis zur Vergreisung illustriert sich in starken, nicht reißerischen Bildern, in denen der agile Chor eine dominierende Rolle spielt. Die drei Solo-Stimmen (bei Haydn keine Charaktere, sondern Idealtypen) fasst auch Herzog als Figuren wechselnder Identität auf: Hanne ist zunächst ein Ami-Liebchen, dann junge Mutter, später Spießerin im Lodenkostüm und zuletzt Altenpflegerin.
Philipp Armbruster lässt das Dortmunder Orchester schlank und flott musizieren, das Sängerensemble mit Anke Briegel (Hanne), Lucian Krasznec, (Lukas) Morgan Moody (Simon) singt stilsicher und stimmschön. Das Publikum folgte der Übertragung zunächst willig, aber mit steigendem Unmut, als die Bühne zum Pflegeheim wird und damit unsere nächste Zukunft vorführt. Die Stimmung drohte zu kippen. Möglich, dass sich auf den Bühnen nach Nacktheit und Sex ein neues Tabu herausbildet: das Alter.