Gewalt und Brutalität hätten sehr gut gelernt, wie man sich verkleidet, sinniert Martial Kermeur vor dem Untersuchungsrichter. Er steht unter Mordverdacht. Die Tat, für die er sich verantworten muss, eröffnet Tanguy Viels Roman »Selbstjustiz«. Kermeur stößt den Immobilienspekulanten Antoine Lazenec auf offener See über die Reling, wissend, dass der Mann ertrinken wird. Doch die Brutalität, von der »Selbstjustiz« handelt, ist eine ganz andere. Sie ist existenzvernichtend, ohne äußerliche Blessuren zu hinterlassen. Sie tritt in Flanellanzügen auf, mit Hochglanzprospekten unter dem Arm, in denen die Träume von einem besseren Leben Gestalt annehmen – und sie baut Luftschlösser aus »rechtwinkeligen Sätzen«.
Schauplatz des Geschehens ist Brest, wo der 1973 geborene Tanguy Viel seine Kindheit verbracht hat. Im Roman ist das eine Region im Niedergang. Vor kurzem wurde dort die Marinebasis geschlossen. Wie so viele Andere auch, hat der Ich-Erzähler Martial Kermeur seinen Job verloren. Seine Frau hat ihn vor längerer Zeit schon verlassen. Er lebt antriebs- und ambitionslos dahin, kümmert sich um seinen Sohn Erwan und verdingt sich als Gutsverwalter. Da kommt ein Mann wie der großspurig auftretende, seinen Reichtum demonstrativ zur Schau stellende Antoine Lazenec gerade recht mit der Idee, einen Badeort aus dem Boden zu stampfen. Mit der Aussicht auf sagenhafte Gewinne kapert er die Fantasie der Männer, die, obwohl sie es besser wissen könnten, nur allzu bereitwillig daran glauben wollen, dass Geld sich auch anders als durch harte Arbeit verdienen lässt. Auch Kermeur investiert seine Abfindung in das Projekt, das bretonische Saint-Tropez aber wird eine morastige Baustelle bleiben.
Diese finstere Parabel aus dem Herzen der kapitalistischen Abstiegsgesellschaft, die Tanguy Viel einmal mehr geschickt in das Gewand einer Kriminalgeschichte kleidet, wird konsequent aus der Sicht Kermeurs erzählt. Obwohl die Sympathien klarer kaum verteilt sein könnten, erschöpft sich der Roman nicht in der schematischen Entgegensetzung von Betrogenen und Betrügern, Gut und Böse. Denn Kermeur legt in seiner Rechtfertigungsrede, die im Verlauf des Buches immer mehr zur Anklage wird, dar, wie sich eine Stadt mit dem Bazillus der sagenhaften Renditeerwartung infiziert. Wertvorstellungen selbst von überzeugten Sozialisten geraten ins Rutschen, bald schon ist jeder Betrogene auch ein heimlicher Komplize.
Vor allem aber schildert Viel sehr eindringlich und berührend, wie der soziale Niedergang die zwischenmenschlichen Beziehungen zerstört, wie sich der Sohn vom Vater entfremdet, weil Söhne ihre Väter nun mal nicht schwach sehen wollen, wie es an einer Stelle heißt. Und Viel konfrontiert den Leser mit der Einsicht, dass Geld zwar nicht alles ist, aber eben auch alles seinen Preis hat. Und es ist wohl symbolisch zu verstehen, dass die Frau des Erzählers, die den Verlierer im Stich lässt, so heißt wie das Land, in dem er lebt: France.
Tanguy Viel vollbringt in »Selbstjustiz« das nicht geringe Kunststück, den Sozialrealismus mit der Poesie zu versöhnen. Kermeurs Monolog ist von einer Sprachmächtigkeit, die zunächst nicht recht passen willen zur Existenz des Underdogs. Aber genau darin liegt der Reiz des Romans: dass da jemand Zeugnis ablegt über sein ins Rutschen geratene Leben und sprechend wieder Kontrolle über sich erlangt. Dass am Ende die Moral gegen das Recht ausgespielt wird, ist nicht die geringste Provokation, mit der Viel den Leser konfrontiert.
Tanguy Viel: »Selbstjustiz«, Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2017, 176 Seiten, 20 Euro
Lesung am 27. November in der Bücherstube Sankt Augustin