»Jemandem zweihundert Meter lang zuschauen, wie er näherkommt.« Das, was man eben so macht, wenn man auf eine Person wartet, die man 25 Jahre lang nicht gesehen hat. Wenn man den Blick nicht mehr abwenden kann, wenn sie in der Ferne auftaucht und langsam näher kommt. Wenn Erwartungen enttäuscht und Veränderungen sichtbar werden. Wenn das erste scheue Lächeln erscheint oder eben ausbleibt. Tom wartet auf die Schwester seines überraschend verstorbenen Schulfreundes, der auch Tom hieß und mit dem er seit damals ebenfalls keinen Kontakt mehr hatte. Auf dem gemeinsamen Gang über den Friedhof bleiben sie schließlich vor einer Grabplatte stehen, vor deren Schmucklosigkeit er erschrickt: »Ein Name, zwei Jahreszahlen. Wir hätten Blumen mitbringen sollen, dachte Tom. Ich hätte Blumen mitbringen sollen.«
Verpasste Chancen, Ungesagtes und Unterlassenes ziehen sich durch Terézia Moras Erzählungen. Ihre Protagonisten sind Liebende, Aufeinandertreffende, Vorübergehende und emotional Verspätete. Menschen in verschiedenen Umlaufbahnen, Königskinder, die nicht zusammenkommen können. Tragisch, aber schön. Terézia Mora nähert sich ihnen in präzisen und angenehm kitschfreien Erzählungen. »Die Liebe unter Aliens« findet im Alltag abseits der angesagten Szeneviertel statt. Dort gibt es Eckgaststätten, Königsberger Klopse, Brandflecke, die wie Galaxien aussehen, Bahnhofsfastfood. Und es finden sich Menschen wie der Nachtportier Peter, der sich zu seiner Halbschwester hingezogen fühlt, die er aber nur einmal im Jahr trifft. Ansonsten sieht er rauchend der Sonne zu, wie sie auf- und wieder untergeht. Dem »Marathonmann« hingegen wird eines Tages sein Beutel mit Wertsachen entrissen. Seiten- und straßenlang verfolgt er sprintend den Dieb, um am Ende bei sich selbst anzukommen. Der junge Hilfskoch Tim wiederum ist unsterblich in die noch jüngere Sandy verliebt, die ein Gesicht wie »ein glänzender, runder Käsekuchen« hat. Sandy will unbedingt ans Meer fahren. Gemeinsam brechen die Beiden auf, bis Sandy kurz vor dem Ziel einfach verschwindet – »Ihr Abdruck im Gras war noch zu sehen. Sie war also wirklich da gewesen bei ihm«.
Terézia Mora, die 1971 im ungarischen Sopron geboren wurde, lebt und arbeitet seit 1990 in Berlin und wurde für ihre bisherigen Romane und Erzählungen wie »Das Ungeheuer« und »Seltsame Materie« zurecht mit Literaturpreisen überhäuft. Sie bringt die großen Dramen in kompakte Formen, lässt dabei aber Raum für scheinbare Nebensächlichkeiten: das Rauschen nächtlicher Wälder, eine nadelnde Lärche, die einen goldenen Teppich hinterlässt, der Geruch von »Linde, Rauch und Sandy« oder die uniform-triste »Orchideenödnis« in den Schaufenstern eines japanischen Viertels. Mit beiläufig-knapper Schonungslosigkeit werden Dinge angekratzt, die eigentlich eine weitere Erzählung erfordern würden. Etwa, dass Tom vor Jahren vergessen hat, auf den Anruf seiner damaligen Frau zu warten und stattdessen in einer Kneipe saß, während sie versuchte, ihn von einer Telefonzelle aus zu erreichen. »Trank gerade ein Bier mit jemandem, während sie 45 Minuten im Schneefall herumstand, um dann nur den Portier dranzuhaben. Weinend nach Hause. Zehn Jahre lang als Trumpf benutzt. Heute gibt es kaum mehr Telefonzellen.«
Terézia Mora: »Die Liebe unter Aliens«Erzählungen. Luchterhand Literaturverlag, München 2016, 272 Seiten, 22 Euro
Lesung am 4. November 2016 in der Stadtbibliothek Bielefeld (im Rahmen der Literaturtage Bielefeld)