Der Ort ist uns geläufig. Die Zeit ebenfalls. Leser von Ralf Rothmann kennen nicht nur das Revier zwischen Oberhausen und Essen, nicht nur Berlin, wohin der Schriftsteller 1976 zog und die noch geteilte Stadt von Kreuzberg aus zu seinem literarischen Schauplatz machte, der sich später erweitert bis an den Müggelsee. Sie kennen auch Schleswig-Holstein, wo er vor 65 Jahren, am 10. Mai 1953, geboren wurde, um dann im Ruhrgebiet aufzuwachsen. Kennen die Bilder der Natur, die man bei diesem Autor mit allen Sinnen spürt, seine feine Wahrnehmung für das Wesen der Kreatur und der leblosen Dinge und die nie zudringlich drängende Nahaufnahme von Menschen. Rothmann schreibt federleicht, wie es das Cover-Motiv nahe legt, zart, licht und präzise, nicht breit, eher schmallippig, nicht wohlig, aber warm.
Die Zeit-, Welt- und Vanitas-Betrachtung des Andreas Gryphius, die der Barockdichter aus dem Erleben des Dreißigjährigen Krieges verfasste, steht dem Roman in vier Zeilen voran. Schilderungen aus alten Chroniken fügen ihr galliges Wissen als »Zeugnis für Künftige« hinzu. Wieder ist Krieg. Immer noch. Es sind Flugzeuge in der Luft. Der Gutshof mit Meierei bei Bovenau, »keine Autostunde von der Stadt« Kiel und nahe bei einem zum Lazarett umfunktionierten Kloster, blieb verschont. Auf den Frühling, der das Sterben der Soldaten brachte (in Rothmanns vorausgegangener Erzählung), folgt »jener Sommer«, der doch Not und Tod nicht aus seinem Kalender gestrichen hat. Selbst das Gebären eines Kalbs ist als Gegenglück ein Gewürge und blutiges Gemenge.
Die zwölfjährige Luisa Norff schmökert sich durch Karl May und Margaret Mitchell; Cervantes, Fontane, Kästner, Stevenson stehen, alphabetisch sortiert, im Regal. Flüchtlinge aus den Trecks von Osten finden Obdach auf dem Gehöft. Luisa und ihre große Schwester Sibylle (Billie), die gern mondän wäre und die es zu den Arbeitshilfen in die Melkerstuben zieht, wurden mit der Mutter evakuiert aufs Land, wo noch nicht Schmalhans Küchenmeister ist. Die mit einem Hauptsturmführer verheiratete Stiefschwester Gudrun schaut zu Besuch vorbei. Vater Willi betreibt das Offizierscasino im zerbombten Kiel und fährt manchmal mit Lebensmitteln und Neuigkeiten vor. »Dem passiert nie was, der hat sieben Leben«, glaubt seine Frau Gerda in ihrem rauen, direkten Ton.
Eine Kindheit und wie sie endet. Eng zusammengerückt und einander auf der Pelle, sorgt die Begegnung der jungen Männer, darunter der sanft-herbe Walter mit dem Sonnenaufgangs-Lachen, Mädchen und Frauen für selbstverständliche Intimität. Das Andere und Fremde, sonst wenig zugänglich, wohnt nun eine Tür weiter. Der Krieg ist auch ein Kuppler. Und Gleichmacher. Sein Bitterstoff nimmt der Süße junger Liebe nicht ihr Aroma. Luisa sieht beim Herumstromern Lagerhäftlinge im Torf. Muss zum Unterricht in eine Scheune, seit die Schule ausbrannte.
Hört ab und an das verpestete Nazi-Vokabular, das hierher nicht besser passen will als zu Edgar Reitz’ »Heimat«-Kunde. Ein Geburtstags-Empfang – fast ein Gegenstück zu dem Ball in Lampedusas »Leopard« – versammelt die dekorierte Gau-Elite und säuft ab im brutal Ordinären. Eine Halifax stürzt ab, einer der Insassen überlebt, nicht für lange. Freund wie Feind rauchen Juno. Luisa erkrankt an Typhus. Jeder will sich durchbringen. Heiße Herzen erkalten. Familie Norff ist am Ende sehr viel kleiner geworden. Die Welt gottverloren und aus den Fugen – und hätte manchmal doch beinahe in Ordnung scheinen können. Aber es so zu betrachten, käme einer Milchmädchenrechnung gleich.
Ralf Rothmann: »Der Gott jenes Sommers«, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2018
Roman, 254 Seiten, 22.- Euro
Lesung am 23. Mai 2018 in der Buchhandlung Korn, Wesel (und am 4. September 2018 im Literaturhaus Herne)