TEXT: ALEXANDRA WACH
Was passiert, wenn der Chef zur Kamera greift und seine Assistentin bei der Arbeit ablichtet? Ein besonders perfider Fall von Überwachung und Kontrolle? Wohl kaum, wenn er August Sander heißt. Schon seine Frau Anna schlüpfte um die Jahrhundertwende in die Rolle des Modells. Ihre Bildnisse dienten dem Anfänger als Werbematerial. Sander steckte die Gattin in schwere Samtkleider und ließ sie in einem Buch über Rembrandt blättern, sein großes Idol. Auf einem anderen rot gefärbten Abzug ist sie im Profil zu sehen. Ausstaffiert mit einem ausladenden Hut, der ihre Laune zu verderben scheint. Sie ist zu jedem Opfer bereit, um die Karriere des jungen Fotografen anzukurbeln.
Auch das Ergebnis des Übergriffs auf die »Sekretärin« könnte nicht vom größeren Vertrauen zeugen. Traumverloren sitzt sie am Fenster. Hinter ihr breitet sich eine weitläufige Hügellandschaft aus. Von dem Krieg, der eben noch durch Deutschland tobte, ist nichts mehr zu vernehmen, bis auf einen kaum sichtbaren Funken von Schwermut, der sich in den Augen der Davongekommenen niedergelassen hat. In der Atelierwohnung im Westerland erledigte Ingeborg Boos in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre die Korrespondenz des vor dem Zugriff der Nazis in die Provinz geflohenen Porträtisten und war auch dem Posieren nicht abgeneigt. Ein Glücksfall – vergleicht man ihre Aufnahme mit einer ähnlichen Komposition von Wilhelm Leibl. 50 Jahre liegen dazwischen. Die Parallelen zum »Mädchen am Herd« sind verblüffend. Still ist es in dem Raum, den das Fenster in ein intimes Nachmittagslicht taucht. Der Maler hat sich seine Küche in Kutterling ausgesucht, um einen Teenager in Szene zu setzen. Die Gedanken des Mädchens scheinen abzuschweifen, abwesend fixiert sie das Herdfeuer. Das Rot ihrer Bluse sticht heraus und verweist metaphorisch auf eine Sehnsucht, deren Glut noch lange nicht erloschen ist.
Begegnet ist sich das Tandem, das in der Schau »Von Mensch zu Mensch« seinen großen Auftritt bekommt, nie. Der in Köln geborene Leibl zog 1863 zum Studium nach München. Der aus dem Westerwald stammende Sander kam 1910 nach einer Zwischenstation im österreichischen Linz in die Domstadt. Von ihm sind immerhin Äußerungen über den 32 Jahre älteren Leibl überliefert, mit dem ihn der überaus realitätstreue Zugang zu den Porträtierten verband. In Kooperation mit der Photographischen Sammlung/SK Stiftung Kultur, die den Nachlass von Sander verwaltet, fächert das Wallraf-Richartz-Museum jetzt in neun Kapiteln die Gemeinsamkeiten der beiden unermüdlichen Menschenerforscher auf – nicht ohne auch die Differenzen deutlich werden zu lassen.
DAS ELEMENTARE THEMA POSIEREN
Die in sich versunkenen jungen Frauen treten im Abschnitt »Melancholia« miteinander in Dialog. Die Gemütsbeschreibung, die schon Albrecht Dürer im Titel für seine berühmte »Melencolia« von 1514 beanspruchte, dient als Klammer einer Rollenzuschreibung, der auch die älteren Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts nicht entkommen. Während die Bauer im Kapitel »Archetypen« bis auf die bärtige Erscheinung ohne besondere Attribute auskommen, halten sowohl Leibls »Alte Pariserin« als auch Sanders »Die Weise« einen Rosenkranz in der Hand. Individuelle Züge lassen sich kaum ausmachen. Offenbar konnten sich beide Künstler, ihrer Epoche gemäß, sozial nieder gestellte Greisinnen, ob städtischer oder ländlicher Provenienz, nur auf dem frommen Weg ins Jenseits vorstellen. Umso mehr überrascht ein humorvoller Titel wie »Die Frau im fortgeschrittenen Intellekt (Intellektuelle)« von 1914 aus Sanders Opus magnum »Menschen des 20. Jahrhunderts«, den er auf die Physiognomie einer mit einem Buch im Sessel sitzende Bäuerin anwendet – eine Bewusstseinsstufe, die er keinem der alten Männer zugesteht. Deren jüngere Pendants dürfen dafür als »Künstlerköpfe« auftrumpfen, oder in renaissancewürdiger Fürstenhaltung ihren gesellschaftlichen Erfolg mit Bäuchen, Seherblick und Orden unter Beweis stellen.
Das elementare Thema »Posieren« wird mit einer besonderen Auswahl abgehandelt. Leibls »Die junge Pariserin« von 1869 zieht auf der Chaiselongue zu Recht die Blicke mit ihrer dem holländischen Barock verpflichteten Aufmachung auf sich, eine vollschlanke Erscheinung mit Pierrotkragen und einer langen Pfeife, deren halb geöffnete Augen laszive Langeweile verbreiten. Ihr Nachbar Leonardo Aramesco steht ihr in Sachen Exzentrizität in nichts nach. Sander nimmt den in den 20er Jahren beim Rundfunk angestellten Tenor in der Haltung eines dramatisch frisierten Dandys auf, mit aufgewühltem Gesichtsausdruck und einer exaltiert gespreizten Hand, hinter der man ein nervöses Leiden wittern möchte.
DER JUNGE SANDER ORIENTIERTE SICH AN DER MALEREI
Das Bildnis von Otto Dix nebenan strotzt dagegen vor gesundem Selbstbewusstsein, während die vielbeschäftigte »Sekretärin beim Westdeutschen Rundfunk in Köln«, die in keiner Sander-Ausstellung fehlen darf, nicht nur dem Typus der Bubikopf tragenden Garçonne huldigt, sondern auch die Ästhetik der Neuen Sachlichkeit feiert. In diesen Aufnahmen ist der Fotograf dem pinselnden Kollegen in Sachen Realismus weit voraus. Sein Vokabular ist gänzlich unmalerisch, die Zeit des farbintensiven Kolorismus, der vor allem in Leibls »Innenwelten« entlang von düster ausgeleuchteten Küchen, Tischgesellschaften und Bauernstuben dominiert, scheint Lichtjahre von Sanders kühlem Menschen-Konzept entfernt, der nach Jahren der tastenden Selbstsuche seine kunsthistorische Position sicherte. Umso pikanter erscheint der Umstand, dass sich auch der junge Sander auffällig an Vorbildern aus der Malerei orientierte. 1904 fotografierte er sich mit Anna sitzend am Wohnzimmertisch. Ihre Nase steckt tief unter der Tischleuchte in einem Buch. Sander selbst spielt auf einer Laute und imitiert mit der schattenreichen Lichtführung die Nachtstücke eines Georges de la Tour.
In der Abteilung »Ausschnitte« erreicht die lobenswert klare Konzeption ihren Höhepunkt. Ein großartiges morceau de peinture (Malereistück) von Leibl widmet sich dem Detail eines Schürzenbundes. Es fängt die Stoffpartien des Ärmels mikroskopisch genau ein, den Glanz der Brosche und die feine Fältelung der Bluse, ein handwerkliches Meisterstück, das offenbar nicht für das ganze Bild galt. Leib zerlegte »Das Mädchen mit der Nelke«, weil es ihm misslungen schien. Überlebt hat den Anfall maßloser Selbstkritik lediglich das Fragment. Sein Ehrgeiz der realistischen Wiedergabe war offenbar grenzenlos, weswegen sich der Pedant auch einen Fotoapparat als Hilfsmittel anschaffte und so zum einzigen fotografischen Beweisstück des zerstörten Gemäldes beitrug.
Sander ist im Gegenzug mit seinen Handstudien vertreten. Er wählte den anatomischen Ausschnitt bewusst als Sujet oder vergrößerte einzelne Elemente nachträglich, um sie hervorzuheben. Hier erweist er sich einmal mehr als Mann der Moderne, der das altehrwürdige Genre Porträt hinter sich lässt und in einem Körperteil wie den Händen ausreichend Material findet, um das Wesen und den Alltag ihres Besitzers einzufangen.
Eine Ausstellung aus einem Guss, die noch lange nachhallt, ein wechselhaftes Rendezvous zweier Brüder im Geiste, die sich um eine Generation verpasst haben.
Bis 11. August 2013. Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln; Tel.: 0221/22121119. www.wallraf.museum.de