TEXT: ANDREAS WILINK
Es liegt kein Segen auf dem Land. Schabbachs Erde ist taub und leer von Frucht, aber sie füllt sich mit Toten. Der Hunsrück sei, heißt es unter seinen Bewohnern, die »Höll’« – Mitte des 19. Jahrhunderts. Anders als in der ersten »Heimat« von 1984 wird uns in dieser »Chronik einer Sehnsucht« kein heimeliges Empfinden geschenkt, wie gewärmt von der Bauernstube. Betrübnis und Trauer, Todesnot und ungestilltes Hoffen beherrschen die vier Stunden, grandios und in aller Ruhe erzählt von Edgar Reitz und exquisit fotografiert von Gernot Roll.
Wir spüren den Atem der Zeit, wir erkennen wieder: Schabbach als geistige Lebensform. Das Dorf, die Schmiede, die Wohnküche der Familie Simon, das Tempo der Pferdestärken oder des menschlichen Laufschritts. Und auch das plötzliche Glimmen von Farbe im malerischen Schwarzweiß: den mürben Schimmer einer verputzten Hauswand, das Grün des Hochzeitskranzes, das Rot von Kirschen und wogende Blau von Kornblumen auf dem Feld, das Gold eines Talers, die bunten Schlieren eines Achatsteins und das Glühen eines Hufeisens im Feuer der Esse. »Die andere Heimat« erfüllt sich als Chronik der Gesten und Gegenstände, als Pastorale der Unruhe, als Lehrjahre des Gefühls und weiß davon zu berichten, dass das bessere Vaterland das Mutterland oder aber die Fremde ist.
Am Horizont entlang ziehen die hoch aufgepackten Leiterwagen mit dem Hab und Gut der Auswanderer. Flämische Werber versprechen Land und Zukunft in Brasilien. Missernten, Kindstod, Diphterie und Schwindsucht, Hunger und Knechtschaft treiben die Menschen zum Aufbruch. In diesem anti-idyllischen Biedermeier der Jahre 1841 bis 1844 herrschen Vaterwille, gottgegebene Obrigkeit, Adelsprivilegien, preußische und protestantische Zucht, gegen die ein Aufruhr auf der Kerb mit dem Ruf nach »Liberté« als »heiligem Recht in uns« nur den Vorschein der Revolution zeitigt.
JAKOB WILL HINAUS
Gustav Simon (Maximilian Scheidt), der ältere Bruder, kommt aus seinem Soldatendienst nach Schabbach heim, der jüngere Jakob hofft, nun nicht mehr dem Vater (Rüdiger Kriese) zur Hand gehen zu müssen. Jakob ist anders: in den Augen von Johann Simon ein Taugenichts, Luftikus und »Flabbes«, ein Träumer und ein Leser von Forscher- und Entdeckergeschichten, heimlich vom alten Onkel und der Mutter (Marita Breuer) unterstützt. Es ist, als schaue die Kamera durch die tiefen dunklen Augen von Jan Dieter Schneider hinein in sein Innerstes. So, wie sie auch die kargen Räume und Alltagsdinge betrachtet und in Besitz nimmt.
Jakob – wie einer seiner späteren Nachfahren, der nach Amerika gehen wird – möchte hinaus in die neue Welt, ins Freie, der Sonne entgegen, wie sein Freund Franz (Christoph Luser), ein verarmter Edelsteinschleifer, mit dem er in Festungshaft saß. Er schreibt Tagebuch, lernt Sprachen, betreibt ethnologische Studien, versteht sich auf südamerikanische Dialekte und Riten der Indianer und korrespondiert darüber mit Alexander von Humboldt (Werner Herzog), der ihn einmal besucht und ihn als wissenschaftlichen Gesprächspartner schätzt. Worauf Jakob mit Furcht und flüchtendem Schrecken reagiert.
Von biblischem Sinn und Kraft, handelt »Die andere Heimat« auch vom Bruderkampf. Gustav heiratet das Mädchen, Jettchen (Antonia Bill), das doch Jakob liebt – so wie er sie; sie schaffen es nach Brasilien. Jakob bleibt und nimmt Jettes Freundin Florinchen (Philine Lembeck) zur Frau. Ein Büchermensch und Abenteurer des Geistes: Welt im Kopf und die Tropen im Herzen. Ewig jung ist nur die Fantasie.
»Die andere Heimat«; Regie: Edgar Reitz; Darsteller: Jan Dieter Schneider, Antonia Bill, Maximilian Scheidt, Marita Breuer, Rüdiger Kriese, Philine Lembeck; Deutschland 2013; 230 Minuten; Start: 3. Oktober 2013.