TEXT: ANDREAS WILINK
In der Suite des Generals Dietrich von Choltitz im Hotel Meurice steht in einem Regal ein Kupferstich mit dem biblischen Motiv des Abraham-Opfers. Es zeigt Jakob, den Sohn, auf dem Stein liegend, den Vater mit dem Messer in der Hand und den Einhalt gebietenden Engel. Dieses Blut will Jehova nicht.
Der unerwartete Besucher des Stadtkommandanten des besetzten Paris, der von Hitler nach dem Attentat vom 20. Juli in das Amt eingesetzt wurde, macht Choltitz auf das Bild aufmerksam. Und setzt es in Vergleich zu der einsamen Entscheidung, die der General vom 24. auf den 25. August 1944 zu treffen hat. Der schwedische Diplomat Raoul Nordling fragt, was für ein Vater das sei, der – koste, was es wolle – dem mörderischen Befehl eines Gottes folgt und Gehorsam beweist, indem er sein eigen Fleisch und Blut schlachtet. Der Bezug zum »Führerbefehl« ist klar. Der vom deutschen Volk Vergottete verlangt die Zerstörung von Paris. Hitler, der sich vier Jahre zuvor durch das menschenleere, von der Wehrmacht eroberte Paris chauffieren ließ und am Trocadéro Station machte, will die Stadt des Lichts dem Erdboden gleichmachen.
Sprengsätze sind gelegt an allen Brücken bis auf den Pont Neuf, an Notre Dame, Oper, Louvre, Parlament, den Bahnhöfen, am Invalidendom, dem Arce de Triomphe, dem Eiffelturm und an der Place de la Concorde. Die Stadt würde überflutet und einstürzen, unzählige Tode würden gestorben. Doch wo Berlin eine Trümmerlandschaft ist, soll Paris nicht triumphieren. Wo beginnt das Recht, wo die Pflicht, Nein zu sagen? Wo beginnt die persönliche Verantwortung und Moralität des Einzelnen, die sich gegen die Autorität des Staates und des nicht gerechten Herrschers erhebt?
Die Frage interessiert Volker Schlöndorff, der in Frankreich seine Lehrjahre absolvierte, seit seinem Debüt »Törless«, bei Michael Kohlhaas und Katharina Blum, bei der RAF, bei dem katholischen Priester und dem Untersturmführer in »Der neunte Tag« und bei dem deutschen Erschießungskommando und den Entscheidungsträgern in Uniform, die über die Hinrichtung von Résistance-Kämpfern in »Das Meer am Morgen« zu urteilen und sie zu vollstrecken haben.
Schlöndorff hat die Geschichte bei Cyril Gély gefunden, dem Autor des Theaterstücks »Diplomatie«, mit dem zusammen er das Drehbuch verfasst hat. Ebenfalls dort fand er die beiden unübertrefflichen Hauptdarsteller, die bereits auf der Bühne die Rollen des Choltitz und Nordling spielten: Niels Arestrup und André Dussollier, die sich im Diskurs, Dialog und gesitteten verbalen Duell begegnen. Ein eindringliches Kammerspiel. Kein großes Kino, aber ein großartiger Film. Es ist alles erfunden, es ist alles wahr. Nicht im historischen, aber im dramatischen Sinn. Selbst die Partie hat keinen ungewissen Ausgang. Aber das nimmt den eineinhalb Stunden nichts an Spannung.
Der Film beginnt in Rauch und Ruinen, während Beethovens Siebte, dirigiert von Furtwängler, erklingt, und endet mit Ansichten vom intakten Paris; zwischendurch einige Dokumentarszenen von den Kämpfen um die Stadt und geschlagenen deutschen Soldaten.
Choltitz und Nordling kannten sich tatsächlich, hatten Kontakt, verhandelten in diesen Tagen auch über Gefangenenaustausch. Aber dass der von den Alliierten beauftragte Nordling über die von Napoleon III. angelegte Geheimtreppe (zu seiner Geliebten) direkt ins Zimmer des Generals kam, dem der hinter Büchern versteckte Zugang nicht bekannt war, ist eine Fantasie des Theaters. Eine schicksalhafte Begegnung. Choltitz beharrt stur und scheinbar ungerührt auf seinem Befehl, der Militär denkt nicht wie der elegante, melancholische, feinsinnige Diplomat, der sein Plädoyer für die Schönheit und eine schon greifbare Zukunft hält und gegen einen barbarischen Akt argumentiert, der die Deutschen noch mehr diskreditiert und die Erbfeindschaft aufrecht erhalten hätte. Denn hätten de Gaulle und Adenauer einander über ein Paris hinweg, das zu Karthago wurde, nahe kommen können? Dabei hat Choltitz längst seinen Glauben an Gott und Führer verloren, aber er bangt um seine Familie, die in Sippenhaft käme und vermutlich des Todes wäre, wenn er sich dem Tyrannen widersetzte. Nordling gibt ihm die Garantie, sie zu retten. Dazu kommt es nicht.
Jahre später erhält Choltitz eine Auszeichnung in Paris, auf der Medaille steht eingraviert: »Paris sprengt seine Ketten.«.
»Diplomatie«; Regie: Volker Schlöndorff; Darsteller: Niels Arestrup, André Dussollier, Robert Stadlober, Burghart Klaußner; D /F, 84 Min.; Start 28. August 2014.