// Er ragt heraus. Reißt die Harmonie der Reihe auf, stört den Frieden des Gleichmaßes, trägt auf seinen Säulenbeinen Last und Lust des Besonderen zur Schau. Als Tänzer ist Jörg Weinöhl ein Fremdkörper. Und das ist gut so. Offenbar haben nicht nur Zuschauer der Rheinoper das Staunen gelernt, als sie das neu benannte »Ballett am Rhein« mit der ersten Produktion sahen, die der Einfachheit halber »b.01« heißt – was eine mögliche Fortzählung ins Unendliche verlängert. Auch das eine und andere Ensemble-Mitglied wusste zuvor nicht recht, was für ein Kollege ihnen da mit dem markanten 39-Jährigen aus Mainz ins Haus kam. Weinöhl passt nicht, wie er selbst oft Gehörtes zitiert, »in die Schablone«. Soll er auch nicht, wenn es nach Martin Schläpfer geht, mit dem ihn 14 gemeinsame Spielzeiten in ihrer »Aufforderung zu differenziertem Schauen« verbinden.
Schläpfer war der Anlass für Weinöhl, von Stuttgart und der Staatsballett-Compagnie wegzugehen: nach Bern! In den kurzen zwei Silben klingt der »Aufschrei« nach, der diesen Entschluss bei nicht wenigen damals ausgelöst habe. Es gab Gründe: »Wir beide erkannten, dass das Wesen des Tanzes noch anders darzustellen ist – dass sich Tanz auch aus dem Gestischen entwickelt«. Insofern war die erste Stückwahl signifikant: Kurt Jooss’ »Der grüne Tisch« mit Weinöhl als maskiertem Tod – Klassiker des Ausdruckstanzes und danse engagé. Als Reinhild Hoffmann, eine von Jooss’ Nachfolgerinnen und Folkwang-Queens, Jahre später Weinöhls selbst choreografierten Abend »Das Wissen der Nacht« sah, habe sie zu ihm gesagt: »Papa wäre glücklich gewesen.« So wurde die Vaterfigur Jooss liebevoll genannt.
Interesseloses Wohlgefallen, in dem sich die Gattung Ballett gelegentlich erschöpft, ist bei Schläpfer nicht zu haben. In »Marsch, Walzer, Polka«, darin die Operettenwelt der Johann-Strauss-Dynastie mit kess geschärftem Charme aus dem Takt gerät, setzt ein Solo den Schlussakzent. Weinöhl ›dirigiert‹ den Radetzky-Marsch, dieses Glanz- und Zugabestück der Donaumonarchie und fährt ihm zugleich in die Parade. Er bedient den Wiener Schmäh, indem er kratzfüßig und katzbuckelnd in Küss-die-Hand-Attitüde rückwärts scharwenzelt, als wäre er Schillers alberne Hofmarschall-Schranze von Kalb in »Kabale und Liebe«. Dann fällt er in den Schritt des hunnischen Feldwebels, dem man auch stumm noch die Schnauze anhört, die er aufzureißen imstande wäre. Ein Doppelporträt von Biedermeierlichkeit und überschnappendem Militarismus, krasser Komik und latenter Gewalt. Schläpfers Methode, Sicherheit zu untergraben, Muster zu brechen, die Balance zu kippen, findet in der Ambivalenz dieser ›Nummer‹ typischen Ausdruck.
Weinöhls kolossale Auftritte haben etwas Irritierendes, weil zwischen der Grazilität des Ausdrucks und der Wucht der Erscheinung scheinbar Unvermittelbares liegt. Hinter preußischem Gardemaß, rötlichem Haarkranz und Bart wäre ein Raubein zu vermuten, bis der Kontrast auf der Bühne selbst zum Thema wird und sich sublim auflöst. »Um die Zerrissenheit in eine Form zu bringen«, sei das Kostüm entscheidend, auch als »Schutzhülle«. Verkleidung als äußeres Zeichen innerer Verwandlung.
Beispielhaft dafür sein Part in »Kunst der Fuge«, von Schläpfer als exquisiter Catwalk für Johann Sebastian Bachs streng geordneten, komplexen Zyklus entworfen und weder protestantisch karg noch in Ehrfurcht erstarrt, sondern flirrend, flirtend und glühend dargeboten. Weinöhl nennt es »abtasten«, wie er auf Bachs Partitur vornehm exaltiert – als Rarität wie aus der barocken Wunderkammer – reagiert. Indem er sein kostbar schwarzes Spitzenkleid lüpft und einen Fuß kokett herzeigt, wie ein männliches Sterntalerkind den Schoß des Gewandes zum Himmel hin öffnet und (als einer von drei Tänzern im Rücken-Akt) zur skulptural nackten Figur wird, ist er der personifizierte Einspruch zu jedweder Eindeutigkeit. Vitales Plädoyer für das Unregelmäßige, Überbordende, Unberechenbare.
Jörg Weinöhl – nach der Probe zu »b.03« mit Mendelssohn Bartholdys Reformationssymphonie in Theater Duisburg – spricht bedächtig, leise, zart. Er moduliert weich im württembergischen Zungenschlag und ähnelt darin der Mundart Schläpfers in ihrer tastenden Suche.
Das rein Physische sei bei Schläpfer eher versteckte Basis und Mittel, um andere Themen und Situationen auszudrücken: Existenzielles.
So auch in der aktuellen Dreiteiler-Premiere mit Balanchines »Serenade«, Paul Lightfoots & Sol Leóns »Signing Off« sowie der Reformationssymphonie. Komponiert zum 300. Jubiläum der Augsburger Konfession 1529, der Bekenntnisschrift des Luthertums, nimmt der zum Protestantismus konvertierte Jude Mendelssohn im dominierenden 4. Satz den Choral »Ein feste Burg ist unser Gott« auf, um das Geheimnis des Glaubens zu umspielen. Wie bei J. S. Bach gelingt es Schläpfer auch in dem sakralen Instrumentalwerk, auf der Grathöhe von Künstlichkeit und Körperlichkeit das Absolute der Musik zu erfassen.
Wiederum weist er Weinöhl eine zentrale Position zu. An der Rampe wird – gut lutherisch – der Mensch in seinem Widerspruch und Aufruhr sichtbar: zitternd und die Gliedmaßen rüttelnd, bis er niederkniet, die Hände faltet, Schmerz und Schrei aus seinem Kollwitz-Kopf brechen, bevor der Körper seitlich niedersinkt, während hinter ihm sich die 17-köpfige Chorus Line formiert und triumphal die Choralmelodie erschallt. Ein Moment, während dessen im Hadern mit Gott eine Glaubenschlacht geschlagen wird.
»Den 20. ging Lenz durch’s Gebirg.«, beginnt Büchners berühmte Erzählung. So stelle ich mit die Gänge von Jörg Weinöhl vor, wenn er mit sich etwas abzumachen hat. Er habe eine Bergwanderung unternommen, als die Frage anstand, ob er von Mainz mit nach Düsseldorf wechseln oder nicht vielleicht doch eine Zäsur setzen wolle. Die Dinge klären: in natürlicher Umgebung und durch In-sich-Hineinhören. Weinöhl hat damit Erfahrung, als Spätberufener.
Zwar gab es für den Fünfjährigen kurz die Überlegung, von der musikalischen Früherziehung zum Tanzunterricht zu wechseln, aber »der Tanzlehrer war mir suspekt und das Thema erledigt«. Für mehr als zehn Jahre. Es bestand große Neigung zur Oper und »ein Brennen fürs Theater«. Aber Tanz? Dann jedoch lösten in Stuttgart Marcia Haydée und Richard Cragun in »Der Widerspenstigen Zähmung« die Initialzündung aus. Es folgte Unterricht an einer privaten Tanzschule, dabei ein Lehrer, der sagte: ›Mit Jörg, das wird nichts‹, der dann in seltsamer Schicksalslenkung Selbstmord beging; schließlich die Aufnahme an der John Cranko Ballettschule. Leicht hätte der Wunsch an der Wirklichkeit enden können. Hindernisse und überhaupt die für einen Tänzer um Jahre verspätete Ausbildung sind Markierungen auf Weinöhls beharrlichem und »ganz eigenem Weg«.
Geholfen hat ihm das Willentliche seines Schritts. »Ich habe mich mit 18 für den Tanz entscheiden können. Das war eine unglaubliche Antriebskraft. Es war eben nicht so, dass ich als Kind in dieses System kam, unbewusst mitlief – und auf einmal ist man Tänzer.« Dennoch, die enorme Disziplin, die der Beruf verlangt, muss angelegt gewesen sein. Es gab schon Regularien. Weinöhls »Kontinuität« war die Musik, Block- und Querflöte, so dass die Musikhochschule nach dem Abitur bereits ins Auge gefasst war. Der Tanz kam dazwischen.
Sein erstes Engagement erhielt er dann auch beim Stuttgarter Ballett unter Marcia Haydée, bevor er 1993 nach Bern wechselte, von dort 1999 nach Mainz ging und in dieser Zeit u.a. in Balletten von Cranko, Béjart, Balanchine, Hans van Manen, Jiri Kylián, William Forsythe, Stephan Thoss und Uwe Scholz tanzte sowie in vielen der Schläpfer-Uraufführungen.
Das Querlaufende, Widerständige seiner Tanz-Biografie prägt ihn bis heute. Auch sein Verhältnis zum Training oder zu den Riten der Auditions und Castings, die er für sich ablehnt, dankbar, dass er sich nie »auf diesen einen Punkt hin beweisen musste«. Schläpfers Credo, dass das Training das Wichtigste am Tag sei, teilt Weinöhl, der durch die Übungsstunden nicht einfach »so durchgeht« und darin bloß Maßnahmen zur technischen Ertüchtigung sieht, je nach Drehzahl und der Menge an absolvierter Pirouetten. Ihm ist ein anderer Aspekt wesentlich: immerwährende Ich-Überprüfung und künstlerische Positionsbestimmung. Gewissermaßen permanente Revolution des Geistes gegenüber der Routine.
Gleichwohl soll nicht unerwähnt bleiben, dass Weinöhl jüngst die besten Werte bei einer Pilotstudie erzielt hat, die mit der Ballett-am-Rhein-Compagnie im Reha- und Trainingszentrum »medicos. Auf Schalke« stattfand und als Resultat erbrachte, dass Tanz als Hochleistungssport anzuerkennen sei (auch mit versicherungs-technischen Konsequenzen).
Eigentlich mag Weinöhl solche Status-Darlegungen nicht. Was vermag pure Leistung ohne die Formung der Gebrechen der Individualität zum Charakter? Indem sich der Tänzer von einem (fiktiven) Idealbild verabschiedet, gewinnen der Knacks, die Krise, das Kreative an Präsenz. Elastizität ist dann ein Vehikel für Emotion. Wenn tanzen – laut Schläpfer – »musizieren mit dem Körper« ist, kann es mit der Zeit in eine andere Tonlage transponiert werden.
Im vergangenen Jahr gab Weinöhl seiner »Sehnsucht, einen Raum zu gestalten«, nach. Er hat für sich »Das Wissen der Nacht« angezapft und »blinde Stellen« auf der Seele hell gerieben. Grimms Märchen von den zertanzten Schuhen, in dem zwölf Prinzessinnen nächtens eingeschlossen und doch am nächsten Morgen mit zertanzten Sohlen aufgefunden werden, ergänzt seine Choreografie um den Kosmologen Gottfried Benn, die Undine Ingeborg Bachmann und einen eigenen Text. In dem prächtig verbrämten, von Barockmusik begleiteten Traumstück mit allegorischen Assoziationen und mythologischen Symbolen ist Weinöhl König der Nacht, höfischer Tanzmeister, Schlossherr, Herzbube, ironischer Kulturkritiker und manieristisches Zwitterwesen – und am Ende dem »Erkenne dich selbst« im Spiegel der Kunst näher gekommen. //