// Ein Jahr lang hatte Johannes Stüttgen bei Joseph Ratzinger in Münster Theologie studiert, bevor er 1966 in die Klasse von Joseph Beuys an der Kunstakademie Düsseldorf wechselte und schon bald Klassensprecher wurde. In gewisser Weise ist er damit bei der Religion geblieben. Beuys behauptete, Gott sei ein Künstler, denn er habe den Menschen aus Erde geformt. Stüttgen redete mit seinem Lehrer, während die Kommilitonen zeichneten, malten oder an Plastiken arbeiteten, und folgte ihm auf den Fersen. Von Anfang an habe er gewusst, »dass Beuys für mich eine Bestimmung war«. Er notierte und skizzierte dessen Leitsätze von der Autonomie der Akademie, der Abschaffung des Einheitsstaates, der absoluten Waffenlosigkeit und der Erziehung des Menschen zur Mündigkeit durch Kunst und befürwortete seine Gedanken, Worte und Werke bedingungslos. Am Silvesterabend 1977 machte Stüttgen sich an die Arbeit, um die Beuys-Zeit von 1966 bis 1972 aufzuarbeiten: den »ganzen Riemen«, wie er sagt. 31 Jahre hat er an der Publikation gesessen, ein Autorenleben lang. Nun ist das, was er seine Lebensaufgabe nennt, vollendet. Stüttgen versteht sich als Zeuge und als Künder – wie Beuys. »Kunst ist eine Botschaft«, sagen beide.
Ein wunderschönes, sehr persönliches Buch ist das Ergebnis. Ein Werk über die Anfänge der wichtigsten Künstler aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Denn wo ein Lehrer ist, sind auch Schüler: Jörg Immendorff, Imi Knoebel, Reiner Ruthenbeck, Katharina Sieverding, Blinky Palermo, Lothar Baumgarten, Anatol Herzfeld und viele mehr. In wundersamen Passagen beschreibt Stüttgen die künftigen Größen und Stars des Betriebs. Palermo skizziert er als bemerkenswerte Persönlichkeit, »vornehm, unaufdringlich, bescheiden, geistesgegenwärtig und – auch wenn er total betrunken war – mit Haltung. Dünnhäutig«. Immendorff steht bei ihm frierend neben seinem Lidl-Haus aus Pappe, Beuys während der »Lidl-Woche« 1969 im Akademie-Eingang, bedeckt mit einem Luchsfellmantel, und schlägt die in der Sonne blitzenden Metallscheiben mehrmals kräftig gegeneinander zu einem weithin hörbaren Eröffnungssignal. Heute liegen der weiße Pelz und die beiden Klangbecken in einer Vitrine der Installation »Palazzo Regale« in der Kunstsammlung NRW – es sollte das große Alterswerk von Beuys wenige Wochen vor seinem Tode werden.
Der Polizist Anatol kurvt souverän mit dem Dienst-Motorrad über die Gänge der Akademie. Katharina Sieverding erscheint als »Künstlerin und Kunstwerk – wo sie auftrat, war allein durch ihre Erscheinung Bühne, in der Akademie wie bei Festen und Vernissagen, im Creamcheese, hinter der Bar im Lover’s Club an der Kö, wo sie nachts ihr Geld fürs Studium verdiente, und sogar im Zirkus als Frau auf der Wurfmesserscheibe«.
Damals kamen viele Künstler an die Akademie, James Lee Byars etwa machte im schwarzen Gewand und mit schwarzem breitwandigem Hut wie ein Zauberer seine Aufwartung. Stüttgen wird nicht müde, das Erlebte zu schildern, mitsamt dem rituellen Abgesang. Denn an jedem Abend ging Beuys seiner Lieblingsbeschäftigung nach: »Er kehrte die Straße und den Bürgersteig sauber und schaufelte die Abfälle in einen großen Plastiksack.«
Das Buch besticht durch Stüttgens enorme Aufmerksamkeit und Beobachtungskraft. Auf den ersten hundert Seiten geht es um das Staunen des jungen Studenten. Fragend wächst er allmählich in seine Aufgabe hinein. Beuys ermuntert ihn: »Keine Frage, und wäre sie noch so dumm, darf abgewürgt werden. Dabeibleiben, bis ein Ergebnis zustande gekommen ist, egal, wie lange es dauert.« Stüttgen bleibt dabei, inzwischen ist er 63 Jahre alt und interpretiert seinen Glauben an die Entwicklung der Gesellschaft noch immer.
Bei der ersten Beuys-Einzelausstellung, 1967, kann er während der Vernissage in Mönchengladbach nicht anwesend sein, weil er Nachtwache in der Psychiatrischen Anstalt Süchteln hat. Dafür fährt die Mutter hin, und es klingt fast wie der Botenbericht in einem griechischen Drama, was sie zu sagen mitbringt.
So verdichten sich Fragmente, Erinnerungen, Erzählungen, Tagebucheintragungen von Freunden wie Jonas Hafner, Philosoph und Bruder, ausgebrochen aus dem Kloster Walverberg, inbrünstiger Malertheologe, Hölderlin- und Nietzsche-Verehrer. Die 68er Jahre waren auch die Jahre der Altstadt-Rocker, des Underground, der Drogenfraktion – und die Beuys-Klasse ein Schmelztiegel. Es gab auch das Scheitern. Stüttgen berichtet, dass sich der Akademieprofessor Manfred Sieler 1971 von einer Brücke auf die Autobahn Düsseldorf-Wuppertal stürzt, oder Günti Sieber an einer Überdosis Opium stirbt.
Zuweilen schreibt er wie im Wachtraum, wenn er an Aktionen teilnimmt, deren Schlüssigkeit sich erst allmählich preisgibt. »Die logischen Momente waren für mich zunächst nicht sichtbar, aber sie eröffneten sich mir. Beuys arbeitete sehr spontan, doch dann stellte sich heraus, dass die Dinge ungemein genau bis in die Partituren hinein geplant waren. Der rote Faden war da. Es war spannend, wie jemand zunächst keine Ahnung hatte und dann in den Vorgang hinein genommen wurde.«
Wie war das mit dem erweiterten Kunstbegriff von Beuys, dessen Aufstieg begann, als er 1972 von Johannes Rau entlassen wurde? Aus Stüttgen schießt es heraus: »Das ist die Bestimmung des Menschen zum Künstler; aber auch die Bestimmung, dass er sein ganzes Leben sowie die Welt, in der er lebt, als Aufgabe erfährt, daraus ein Gesamtkunstwerk zu machen. Dann muss man natürlich fragen, was ist ein Kunstwerk. Es ist eine in sich stimmige Form, die Gültigkeit aus ihren Gesetzen erhält, die sie sich selbst gibt. Die Freiheit ist ja das große Geheimnis. Sie entwi-ckelt Gesetze, nach denen ich mich richten kann.«
Als 1977 die documenta 6 beendet war, trat ein Verlag an Beuys heran – der reichte den Auftrag an Stüttgen weiter. »Lass dir bloß viel Zeit«, empfiehlt er dem Meisterschüler. Stüttgen begann sein Werk, das Beuys bis zu seinem Tod 1996 begleitete. In den 90ern sollte das Buch herauskommen, aber der Verlag war längst abgetaucht. Immer wieder stand das Projekt auf der Kippe, bis das Hessische Landesmuseum Darmstadt als Herausgeber einsprang. Da löste auch Walther König sein Versprechen ein und verlegte das tausendseitige Konvolut, mit all den vielen Fotos, für die alle Fotografen und die Familie Beuys das Copyright frei gaben. Nun liegt es vor, mehrere Kilogramm schwer, eine Fundgrube von Geschichten und Geschichte.
Eine letzte noch sei erzählt, die vom nebulösen Untergang des »Nebelraums« von Gotthard Graubner beim Gastspiel der Düsseldorfer in Edinburgh 1970. Der Raum bestand aus einem Gerüst aus Holzlatten, Presspappen oder Spanplatten. Eine Elektromaschine versorgte das Innere mit künstlichem Nebel. Da fing es darin an, ganz real zu brennen. Beuys hielt den Feuerwehrleuten eine Axt entgegen, damit sie alles kurz und klein schlagen könnten. Die Profis löschten mit Klaus Rinkes Wasserschläuchen. Der Kunstraum war dahin. Aber die Aktion hatte ihre Schönheit.
Stüttgen rückblickend: »Ich hatte das Glück, mit einer Jahrhundertfigur lange zusammen zu arbeiten, deshalb habe ich auch die Verpflichtung, die Vorgänge, die ich erlebt habe, weiter zu geben.« Seine Meriten besitzt er auch sonst. 2004 erhält er den Honory Fellowship Award, die ehrenhafte Mitgliedschaft der Oxford Brookes University, der einzigen Universität mit einem Lehrstuhl für soziale Skulptur. Gewürdigt wird er für seine »geduldige Grundlagenarbeit an der sozialen Skulptur und der Direkten Demokratie«. Stüttgen hält Gastvorlesungen, Seminare, leitet Führungen. Eine weitere Nebenbeschäftigung ist der »Omnibus für Direkte Demokratie«, ein Unternehmen, das sich für den bundesweiten Volksentscheid einsetzt, gestartet 1987 auf der documenta. Von Stadt zu Stadt rollt der von Spenden finanzierte Bus noch heute. Johannes Stüttgen hat das Steuer in der Hand. Und Beuys’ guten Geist an seiner Seite. //
Johannes Stüttgen, »Der Ganze Riemen«, 1048 Seiten, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln; 96 Euro.