TEXT: ULRICH DEUTER
Warum der Mensch nicht ewig lebt, ist leicht zu erklären: Der halbgöttliche Urvater der Heilkunst, Asklepios, Sohn des Apoll, brachte es in seiner Disziplin so weit, dass er Tote wieder zum Leben erweckte. Weil daraufhin Zeus fürchtete, der Hades werde leer, griff er zum Donnerkeil und erschlug den mythischen Arzt. Seitdem vermögen die Mediziner viel, aber nicht mehr alles.
Wie viel sie bereits vor zweitausend Jahren vermochten, zeigt eine Ausstellung im Römisch-Germanischen Museum zu Köln: Zwischen dem 1. und dem 4. Jahrhundert n. Chr. stand die antike Heilkunst in ihrer Blüte. Sie kannte Arzneien und Diäten, besaß tiefgreifende anatomische Kenntnisse, war spezialisiert in Augen- und Zahnheilkunde, Urologie, Gynäkologie, Chirurgie; es gab Pharmazeuten und Tierärzte. Sowie Wellness-Spezialisten, die die bekanntermaßen üppige römische Badekultur medizinisch abrundeten. Die 20.000 Einwohner, die in der Colonia Claudia Ara Agrippinensium zu ihrer Hochzeit in den ersten Jahrhunderten n. Chr. zu Hause waren, konnten etwa 40 Ärzten konsultieren – damit befand sich die medizinische Versorgung römischer Städte von der Größe der Provinzmetropole Köln auf einem Niveau, das dem heutigen um nichts nachsteht.
Dieses Niveau einmal konzentriert zu zeigen, dazu ist das RGM in Köln besonders befähigt, fand sich doch im archäologisch gut gesättigten Untergrund der Stadt die größte Zahl von Arztgräbern: 16 der 100, die im gesamten römischen Reich bisher entdeckt wurden. Und jede neue Buddelei wie jetzt beim Bau der Nord-Süd-Stadtbahn bringt neue medizinische Bestecke ans Licht.
Warum gerade Ärzten ihre Werkzeuge reichlich mit ins Grab gegeben wurden, weiß man nicht. Doch als Archäologe und Historiker freut man sich darüber. Denn was man dann an feinmechanischem Gerät in Händen halten kann, das illustriert und erweitert die zahlreichen literarischen Quellen zur antiken Medizin, die bekannt sind: die Schriften von Hippokrates von Kos (4. Jh. v. Chr.) bis zu Galenus von Pergamon (2. Jh. n. Chr.), der nach jenem berühmten Begründer der wissenschaftlichen Medizin die Disziplin wie kein anderer voran gebracht hat.
Schon diese beiden Namen machen klar: Heilkunst ist griechisch. Auch noch in römischer Zeit. Der Sage nach wurde im Jahre 293 v. Chr. Asklepios von einer Delegation aus Griechenland nach Rom geholt, damit er dort eine schwere Seuche beende. Der Halbgott ging in Gestalt einer Schlange an Bord des Schiffs und verließ es wieder, als die Tiber-Insel in Sicht kam. So kann man es bei Ovid lesen. (Hier, wo das erste römische Heiligtum für den Retter errichtet wurde, steht übrigens noch heute ein Krankenhaus.) Und von dort, vom Tiber aus verbreitete sich Asklepios’ Kunst weiter nach Norden und auch bis nach Niedergermanien, in Gestalt von Militärärzten und im Gefolge der römischen Legionen.
Die Militärlager, auf denen das Imperium fußte, besaßen Krankenhäuser; die Ärzte im zivilen Köln aber waren niedergelassen. Viele hundert müssen im Laufe der über 400 Jahre dauernden römischen Kaiserzeit in Köln gelebt und praktiziert haben. Nur wenige Namen sind durch Inschriften bekannt, so z.B. Marcus Rubrius Leonta; sein Grabstein aus den 20er Jahren des 1. Jahrhunderts n. Chr. ist das älteste Zeugnis eines medicus in Köln. Oder die Augenärzte Tiberius Iulius Iason und Caius Cassius Doryphorus, deren Namen auf kleinen Steinstempeln zu lesen sind, mit denen sie einst ihre Medikamente kennzeichneten. Auch diese Eigennamen zeigen: Es waren Griechen. Arzt war zu damaliger Zeit ein Lehrberuf, am besten zu erlernen oder zu vervollkommnen in der Heimat des Asklepios – den die Römer Äskulap nannten.
Was machte der Arzt im römischen Köln, was konnte er? Er – oder sie, denn es gab nicht wenige Ärztinnen – behandelte Zahnerkrankungen (aber extrahierte selten), stach den Star, spreizte und säuberte Wunden, ließ zur Ader – und all dies mit einem so ausgereiften Instrumentarium, dass es sich seiner Form nach von den jetzigen Werkzeugen kaum unterscheidet. Besonders gut ist dies an einem Vaginal-Speculum zu erkennen, das von dem heute verwendeten gynäkologischen Untersuchungsgerät kaum differiert und dessen metallenes Schraubgewinde mit hoher Präzision auf einer Drehbank hergestellt worden sein muss. Die medizinischen Geräte – Knochenhalter, Wundhaken, Skalpelle, Löffelsonden, Steinschnittmesser, Blasensteinhaken, Aderlass-Lanzette, Starnadeln, Spatelsonden, Zäpfchenzangen, Pinzetten – zeigen oft den Stempel ihrer Hersteller-»Firma«, etwa den des Agathangelus: ein Feinmechaniker, von dem zahlreiche Instrumente auch in Pompeji gefunden wurden. Doch neben ihrer hohen Funktionalität waren diese Bestecke auch oft reich verziert – etwa das, welches im Grab einer Kölner Chirurgin an der Luxemburger Straße entdeckt wurde. Die grafischen Muster aus Silbereinlagen in der einst goldfarbenen Bronze der Instrumente aus dem 3. Jahrhundert n. Chr. müssen ein prächtiger Anblick gewesen sein.
Die Ausstellung – klein, dicht und anschaulich – erzählt uns, dass im Reich des Augustus und seiner Nachfolger sogar Chirurgie praktiziert wurde; wenn auch wohl nur im äußersten Fall. Schließlich gab es lediglich geringe Narkose- und kaum Sepsis verhindernde Möglichkeiten. Glaubte man als Arzt, ins Innere des Körpers zu müssen, so wählte man die natürlichen Öffnungen. Weniger zurückhaltend war man allerdings wohl bei der Trepanation: Die therapeutische Schädelöffnung (gegen Kopfschmerzen, gegen Wahn?) war eine Maßnahme, deren überraschend oft gelungenes Ergebnis in zahlreichen Gräbern der Historie (schon seit vorantiker Zeit) zu finden ist. Auch in einer Vitrine im RGM starrt so ein kreisrundes Schädelloch einem entgegen. Dessen scharfe Ränder lassen allerdings wissen: Dieser Patient hat den Eingriff der Kronsäge nicht überlebt.
Den Eingang der Ausstellung bewacht ein überlebensgroßer Asklepios; ihren Ausgang markieren Büsten der Heiligen Walburga und Apollonia, auf die die magische ärztliche Kunst des Griechengottes übergegangen ist. Walburga schützt vor Augenleiden, Pest, Hundebiss und Tollwut, ihre Kollegin ist Patronin der Zahnärzte. Auch diese christlichen Nachfolgerinnen des Äskulap präsentieren als Zeichen ihrer Kunst dessen Schlange. Dass mit diesem Tier vor Urzeiten wahrscheinlich die im Mittelmeerraum beheimatete Vierstreifennatter gemeint war, ein von Natur aus außerordentlich zahmes Tier, ist mittlerweile Konsens. Warum aber überhaupt das sich um den Stab windende Reptil zum Zeichen der Heilkunst wurde, das kann auch diese Ausstellung nicht beantworten.
Bis 1. November 2015. www.museenkoeln.de/roemisch-germanisches-museum. Tel.: 0221/221-2 44 38