Sandra Hüller ist Spezialistin für Frauen mit dem zweiten Gesicht, für das Erkunden von Grenzregionen, Sprünge aus der Realität, Seelenwanderung (ein längeres Porträt finden Sie hier). Pragmatisch gesprochen: für Störfälle. Es begann mit ihrer Rolle der Studentin Michaela in Hans-Christian Schmidts »Requiem«, an der ein Exorzismus vorgenommen wird. Es folgten unter anderem die Studie »Brownian Movement« und die Trauerarbeit »Über uns das All«. Und ist nicht selbst die kontrollierte Präzision der Ines in Maren Ades »Toni Erdmann« Spiegelung solcher Charaktere? »Schlaf« von Michael Venus setzt diese Porträtreihe aus der Intensivstation fort. »Stupor« nennt der behandelnde Arzt das, was mit Marlene geschieht. Womöglich ausgelöst durch ein Trauma, fällt sie in stumpfe Schockstarre.
Als Baby wurde sie ausgesetzt vor einem Kinderheim, arbeitet nun von Hamburg aus als Flugbegleiterin und lebt mit ihrer erwachsenen Tochter Mona. In wiederkehrenden Albträumen sieht sie ein Hotel, Männergestalten, einen Wildschwein-Keiler. Hefte voll düster bedrohlicher Zeichnungen halten ihre inneren Bilder fest. Mona findet sie ausgebreitet auf Marlenes Bett, nachdem die angeblich zur Arbeit aufbricht, aber in Wahrheit ein Hotel aufsucht, das dem aus ihren Nächten gleicht. Sie nimmt sich ein Zimmer, wird nach einer Panikattacke aufgefunden und in eine nahe Klinik eingeliefert. »Krasse Aura« bescheinigt eine dortige Angestellte dem Hotel Sonnenhügel, in das Mona ebenfalls einzieht, um nahe bei ihrer Mutter zu sein.
Das Grauen der Provinz
Hotels sind Orte des Befremdens, des Unpersönlichen, Unheimlichen, wie etwa das Overlook Hotel in Kubricks »Shining« oder jenes aus »Barton Fink« der Coen-Brüder. Mona (als Hüllers adäquate Partnerin: Gro Swantje Kohlhof) wird das in Nachfolge und Stellvertretung ihrer Mutter erfahren: als einsamer Gast außerhalb der Saison in dörflicher Abgeschiedenheit. Der Horror nimmt Gestalt an. Das Grauen von Provinz, Familie, deutscher Geschichte und völkischer Gesinnung, Blut und Märchenwaldboden, Wahn und Tod träufelt Michael Venus seinem Thriller unnachgiebig leise ein, bis das Gift wirkt, das Marlenes und Monas Bewusstsein trübt, um es zu erhellen.
»Schlaf«, Regie: Michael Venus, D 2020, 100 Min., Start: 29. Oktober 2020