TEXT: ANDREAS WILINK
Xavier Dolan stammt aus Montréal und kann sich Regisseur, Schauspieler, Autor, Produzent nennen. Er ist 21. Ein Rimbaud. Ein Raymond Radiguet. Seinen zweiten Spielfilm hat er bereits fertig gestellt: »Les amours imaginaires«. Wir warten darauf. Sein in Reife und Radikalität kaum zu glaubendes Debüt, »J’ai tué ma mère«, wurde 2009 in Cannes in der Reihe »Quinzaine des Réalisateurs« vorgestellt, wurde gefeiert und erhielt ein Dutzend internationaler Preise. Das Drehbuch hatte er mit 17 geschrieben – im gleichen Alter wie sein von ihm selbst gespielter Held Hubert Minel, der allein mit seiner Mutter Chantale Lemming (Anne Dorval) lebt. Der Vater lässt nur selten von sich hören.
Hubert hasst, wie Maman kaut und sich den Mund verschmiert, dass sie sich im Auto schminkt, wie sie sich kleidet, sich einrichtet, was sie kocht, mit wem sie ausgeht. Einfach alles. Sie haben nichts gemeinsam. Hubert fühlt sich in die falsche Wiege gelegt. Sie sind wie ein Ehepaar – kein Puffer, der die Wucht des Aufpralls mildern würde. Beide hochfahrend, launisch und leicht explosiv, wie auch der Schulleiter des Internats hören muss, als er Madame Lemming telefonisch informiert, dass ihr Sohn ausgebüchst ist, nachdem ihn die Eltern in seltener Eintracht dort angemeldet haben.
Hubert ist begabt, sensibel, kreativ, wild at heart. Auch eine Nervensäge. Manchmal ein Arschloch. Ein romantischer Jüngling, dem seine Lehrerin, zu der er sich als seiner Vertrauten flüchtet, Alfred de Musset zu lesen gibt. Sie vergleicht ihn mit einem Tiefseefisch: »blind und erleuchtet«. Und Hubert ist homosexuell – Chantale Lemming muss es erst von der Mutter seines Freundes Antonin erfahren.
Der symbolische Muttermord, den der Titel wie einen Abwehrzauber handhabt, stiftet eine Monstre-Tragödie und ein Drama der Selbstbehauptung. Einen Exorzismus. Eine Kriegserklärung, ein Duell, schließlich den Friedensschluss. Hubert balanciert auf der Borderline – so wie seine Low-Budgetproduktion zwischen den Genres.
Xavier Dolan findet dafür die gemäße erzählerisch offene Form. Die Geschichte wird immer wieder durchschossen von schwarzweiß gefilmten Selbstgesprächen vor dem Spiegel und von Momentaufnahmen, deren Montage wie Gedankenblitze, knappe Assoziationsketten und Phantasie-schübe einschlägt: ein Universum der erotischen, elegischen, kitschigen, sinnlichen Puzzlebilder. Xavier Dolan kennt den mythischen Clown
Cocteau ebenso wie den Pin-Up-Boy James Dean, das campy Fotografenduo Pierre & Gilles und all die anderen Rebellen, Heroen, Märtyrer und Stil-Apostel; und Kino-Gänge weiß er zu zelebrieren wie Wong Kar-Wai. Als Künstler ist er auf bestem Wege, Almodóvar, François Ozon und Gus van Sant zu erreichen.
»J’ai tué ma mère – I killed my Mother«; Regie: Xavier Dolan; Darsteller: Anne Dorval, Xavier Dolan, François Arnaud; Kanada 2009; 100 Min.; Start: 3. Feb. 2011.