Im letzten April berichtete die »New York Times« auf ihren Gesellschaftsseiten von der Hochzeit des deutschen Fotografen Thomas Struth mit der US-amerikanischen Schriftstellerin Tara Bay Smith. Lange Zeit, so wird dort der Bräutigam zitiert, habe er sich nicht vorstellen können, zu heiraten. Denn der Gedanke an die Ehe war immer auch mit dem Gefühl von Enge und Druck verbunden. Das, so erklärt die Braut, sei der Grund, warum ihr Mann Familienporträts mache. Er beobachte in ihnen, was diese Menschen aneinander binde und was sie voneinander entferne, wer im Vordergrund stehe und wer sich im Schatten verstecke. Nun ist die Rubrik »Weddings & Celebrations« selbst der »New York Times« nur bedingt verlässlich, wenn es um Auskünfte darüber geht, wie und warum ein Künstler das eine und nicht das andere fotografiert. Zumal Geschichten vom Heiraten, wenn sie nur dramatisch genug angespitzt werden, ja auch irgendwie immer von Bindungsscheu handeln.
Doch auch eine andere, biografische Anekdote lässt vermuten, dass Thomas Struths Verhältnis zum »Familienleben« keineswegs ungebrochen ist. Eric Konigsberg, ein Freund Struths, hat sie noch einmal im Katalog zur Ausstellung aufgeschrieben. Es ist die »Ursprungsszene« des Fotografen Thomas Struth, sie handelt von der Geschichte, der Familie und einem Kind, das sich vom Fotoalbum aus der Wehrmachtszeit seines Vaters faszinieren lässt. Später wird der Heranwachsende diese Bilder nicht mit seinem Wissen aus den Geschichtsbüchern und den Berichten des Vaters zur Deckung bringen können. Aus dieser Irritation heraus erwächst dem jungen Struth eine Skepsis seinem Vater gegenüber – und das Interesse an der Fotografie als Instrument des »mechanischen Dokumentierens«.
Auf verschiedene Weise illustrieren diese Geschichten etwas, das sich vielleicht das Unbehagen Struths an und in institutionalisierten Lebensgemeinschaften nennen lässt. Man sollte dieses Gefühl sehr ernst nehmen, denn es bewahrt den Betrachter davor, auf den 28 Familienporträts, die Struth für die Ausstellung in der Photografischen Sammlung der SK-Stiftung versammelt hat, bloß glückliche, in sich und dem familiären Verbund ruhende Menschen zu sehen.
Struths Projekt »Familienleben« ist von einem großen Vertrauen in das geprägt, was er im Zusammenhang mit seinen Videoarbeiten einmal »das Ausstrahlungspotential der Dinge selbst« genannt hat. Dem man, so fügte er damals hinzu, heute immer weniger zutraue, weshalb ständig die Reizschwelle erhöht werde. Ein solches Vertrauen in das »Ausstrahlungspotential« des Dinges »Familie« gerät schnell als Kulturkonservatismus in Ideologieverdacht. Zumal bei jenen, denen die immer kürzere Halbwertszeit von familiären Verbindungen nicht einfach nur Zustandsbeschreibung, sondern Fortschritt ist.
Allein schon Struths Auswahl der Porträtierten könnte diesen Verdacht bestätigen. Denn bis vor kurzem waren es überwiegend gut situierte Kleinfamilien, die Struth in ihrer privaten Umgebung ablichtete, mit empathischer Distanz, gänzlich frei von denunziatorischen Momenten, wie sie sich etwa in Tina Barneys Porträt-Projekt »The Europeans« finden. Sind das jetzt Schonräume einer bürgerlichen Subjektivität, in die Patchwork allenfalls als passendes Accessoire für den akkurat geschliffenen Dielenboden passt? Geht es um den Kontrast zur nicht mehr heilen Welt draußen?
Da fängt also Mitte der 80er Jahre einfach einer an, die Kraftzentralen der bürgerlichen Gesellschaft abzulichten. In einer Zeit, in der absehbar war, dass die Institution Familie in ihrer traditionellen Ausformung zunehmend infrage gestellt werden würde. So wie sich Bernd und Hilla Becher, deren Fotoklasse an der Düsseldorfer Akademie Struth in den 1970ern besuchte, Fördertürmen, Hochöfen und Gasometern angenommen hatten, als diese gerade vom Strukturwandel in die Funktionslosigkeit entlassen wurden. Doch es ist nicht allein die Wahl des Gegenstandes, sondern auch das auf den ersten Blick scheinbar ungebrochene Vertrauen in die Aussagekraft und die Objektivität fotografischer Abbilder, das den Betrachter der Struthschen Familienfotos irritieren könnte. Hatten sich nicht zahlreiche Künstler vor Struth insbesondere seit den 1960er Jahren kritisch am Genre »Porträt« abgearbeitet, aus der Einsicht heraus, dass nicht mehr die so genannte Wirklichkeit das fotografische Bild, sondern die Bilder der Fotografie die Wirklichkeit prägen – bis hin zur radikalen Verneinung seiner Legitimation?
All die Einwände verkennen, dass Struth selbst sich dieser Problematik durchaus bewusst ist, wenn er sagt: »Das Portrait ist dasjenige Thema in der Fotografie, in dem die Probleme des Mediums am sichtbarsten werden.« Hinter dem ästhetischen Traditionalismus verbirgt sich dann auch ein komplexes Arrangement, das die Entstehungsbedingung genauso wie die Atmosphäre der Bilder beeinflusst. Hervorgegangen ist Struths »Familienleben« aus der Auseinandersetzung mit psychoanalytischer Praxis. Bevor nämlich das früheste bislang veröffentlichte, untypisch schwarzweiße Foto der Serie, »The Johnston Family«, 1985 aufgenommen wurde, beschäftigte sich Struth auf Anregung eines Freundes mit der Frage, welche psychoanalyserelevanten Informationen sich in Familienaufnahmen aufbewahrt finden könnten. 1982 schlug ihm der Psychoanalytiker Ingo Hartmann vor, ein Verfahren weiterzuentwickeln, das Bestandteil der Behandlung seiner Patienten war. Um etwas über deren biografische Hintergründe zu erfahren, ließ Hartmann sie drei oder vier für ihr Familienleben typische Aufnahmen auswählen. Struth und Hartmann sortierten die ausgesuchten Bilder, reproduzierten sie als Schwarzweiß-Vergrößerungen und organisierten sie nach Kategorien. Der Titel dieses Projektes, das 1983 und 1984 in zwei psychoanalytischen Instituten in Deutschland zu sehen war, lautete: Familienleben.
Man darf also annehmen, dass Struths Interesse am Familienporträt ein im mehrfachen Sinne analytisches ist. Wobei die Rückschau der Patienten mithilfe ihres Familienalbums hier durch den Blick der Freunde und Bekannten in die Kamera ersetzt wird. Dafür unterwirft Struth die Porträt-Sitzung einer mehr oder weniger immergleichen Ordnung. Der Bildausschnitt wird von ihm gewählt, wobei der Kamera-Blick in der Regel frontal auf die Familienmitglieder gerichtet ist. Die Aufnahmen werden in häuslicher Umgebung mit einer Plattenkamera unter Verzicht auf künstliches Licht gemacht, was bei den Porträtierten wegen der langen Verschlusszeiten die Fähigkeit zum Stillhalten voraussetzt und ein Bewusstsein für den Akt des Fotografiertwerdens schafft. Den Familienmitgliedern, mit denen Struth zum Zeitpunkt der Aufnahme meist längere Zeit bekannt war, bleibt hingegen überlassen, wie und wo sie sich zueinander im Raum positionieren. Entscheidend aber ist die vorgeschriebene Blickrichtung. »Die Portraitierten«, so hat Struth 1990 im Gespräch mit Benjamin H. D. Buchloh hervorgehoben, »erliegen nicht der Illusion, sie schauten den Fotografen an. Die Personen blicken ins Objektiv, wenn sie fotografiert werden, und sie wissen auch ganz genau, was es bedeutet, fotografiert zu werden: In diesem Augenblick projizieren sie ein Spiegelbild, ohne sich tatsächlich selbst zu sehen.«
Genau an diesem Punkt wird die vermeintlich einfache Sache dann auch kompliziert: Wer hier neben wem auf dem üppigen Sofa Platz nimmt, ob Großvater sich in der Mitte oder am Rand aufstellt, die Frau die Arme auf der Schulter des Mannes abstützt oder sie doch lieber schützend um ihre beiden Kinder legt, ist in einer solchen Versuchsanordnung eben nicht mehr allein situativ bedingt. Das Bewusstsein, sich als Familie in der Aufnahme zu spiegeln, lässt die gemeinsam erlebten Jahre auf den Bruchteil einer Sekunde Belichtungszeit zusammenfallen. Diese einmalige Zeitkondensation wird zudem noch dadurch akzentuiert, dass Struth für die Ausstellung jeweils nur ein »Familienleben« ausgewählt hat, während in dem 1997 erschienenen Band »Portraits« noch mehrere Bilder einer Familie mit jeweils unterschiedlichen Entstehungszeiten Eingang gefunden haben.
Auf Struths Fotos sind also nicht einfach nur Familien zu sehen, viel mehr zeigen sie Menschen, die sich über den Blick in den »Kameraspiegel« als solche zu definieren suchen. Es sind, mit den Worten Thomas Struths, »Momentaufnahmen eines unsicheren Friedens«: »Wir sehen die Familienmitglieder in einem Moment, wo es ihnen gelingt, sich gegenseitig so zu akzeptieren, wie sie sind.« Dabei ist es paradoxerweise die Bewusstheit, mit der sich die Porträtierten zum Ensemble arrangieren, durch die sich so etwas wie das familiäre Unbewusste in den Bildern ablagern kann; etwas, das der Kontrolle der Beteiligten entgeht. Was nicht heißt, die vielschichtige emotionale Dynamik lediglich in den Abständen und Haltungen zu suchen, die die Porträtierten zueinander einnehmen. Denn genauso wie sie ihren Platz im Zuund Miteinander finden müssen, haben sie sich als ganze Familie auch der Kamera gegenüber zu verhalten. In die ruhige Konzentriertheit, die in fast allen Aufnahmen zu finden ist, mischt sich bisweilen auch ein Anflug von Reserviertheit, ja Misstrauen gegen die Offenlegung des »Familienlebens«. Was Wunder, denn Blicke in den Spiegel fördern selten nur das zutage, was wir erwarten oder sehen wollen.
Ein Viertel der in der Ausstellung gezeigten »Familienleben«sind zwischen 2005 und 2007 entstanden. Wenngleich die Aufnahmeprozedur dieser Bilder sich an die von Struth festgelegten Bedingungen hält, ist darin der Versuch zu erkennen, die Definition des Gegenstandes an die Bedingungen anzupassen, unter denen sich familiäres Leben im 21. Jahrhundert abspielt. In »The Barlow Family«, im letzten Jahr in New York aufgenommen, sind es die Adoptivkinder, die den inhaltlichen Rahmen einer Serie erweitern, die sehr langsam über drei Jahrzehnte pa-rallel zu den anderen Motivkreisen Struths entstanden ist. Die 2005 in Peru fotografierte »The Ayvar Family« hingegen hebt sich deutlich sichtbar durch die ärmlichen Lebensverhältnisse von den anderen ab. Dem Konzept des »Familienlebens« ist diese Anpassung äußerlich. Denn hier geht es nicht um die Familie als Wert. Eher schon um eine klar definierte Versuchsanordnung, in der sich die Fotografie als »eigentlich naturwissenschaftliches Werkzeug zur psycho-logischen Erforschung« (Struth) ausprobieren lässt. Egal, ob sie nun in Lima, New York oder Düsseldorf zuhause ist, egal auch, ob sie aus drei oder zehn Mitgliedern besteht – was wäre geeigneter für ein solches Experiment als eine Gemeinschaft, in die hineingeboren zu sein das Leben ihrer Mitglieder nicht unwesentlich geprägt hat. //
Thomas Struth: Familienleben; bis zum 20. April 2008 in der Photographischen Sammlung/SK Stiftung Kultur. Der bei Schirmer/Mosel erschienene gleichnamige Katalog kostet 49,80 Euro. www.sk-kultur.de