TEXT: ANDREJ KLAHN
Die Wand am Ende der Straße, auf die Mirko Bonné seine Road Novel »Nie mehr Nacht« mit Ruhe und doch zielstrebig zulaufen lässt, scheint von Anfang an und lange Zeit unausweichlich. Obwohl die ersten Kilometer, die Markus Lee und sein fünfzehnjähriger Neffe Jesse miteinander verbringen, auf generationskonflikthafte Weise heiter wirken. Sie fahren in einem alten Mercedes Richtung Normandie, wo der Zeichner für ein Kunstmagazin Skizzen von Brücken fertigen muss, die während des Zweiten Weltkriegs besonders erbittert und verlustreich umkämpft waren. Mit wenigen Strichen soll Lee sie »zum Sprechen bringen«, so lautet der Auftrag.
Auf der Fahrt an die Küste schweigen Markus Lee und Jesse beredt und manchmal auch provokant aneinander vorbei, wie das eben Menschen tun, die dreißig Jahre Lebenszeit voneinander trennt. Doch die beiden verbindet auch etwas. Nicht allein das Reiseziel, sondern der Tod Isas – dem einen Mutter, dem anderen Schwester –, die sich vor elf Monaten das Leben genommen hat. Der Verlust kommt erst am vorläufigen Ende der Fahrt zur Sprache, auf dem Parkplatz des verfallenen und leerstehenden Hotels »L’Angleterre«, wo Jesse mit der Familie seines Freundes Niels die Ferien verbringen will. »Ich muss immer an sie denken, immer und immer«, sagt der Junge, und der Onkel antwortet nur: »Ja, ich auch.« Ein Drittel des Romans braucht es, bis dieses Einverständnis im Trauma zwischen Markus Lee und Jesse hergestellt ist. Wie aber Bonné bis dahin ihre Beziehung über dem Abgrund des Unbewältigten ausbalanciert, ist ein anrührendes Kunststück.
Mirko Bonnés fünfter Roman »Nie mehr Nacht«, der in diesem Jahr auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, handelt davon, wie sich ein Mann abhanden kommt. »Sich auflösen, verschwinden, und am Schluss …«, so lässt der 1965 geborene Bonné seinen trübsinnigen Helden einen Vers aus Keats »Ode an eine Nachtigall« memorieren. Wie die Strophe weitergeht, ist Lee entfallen; mit »vergessen« nämlich, doch eben das will Lee nicht gelingen. Bonné parallelisiert Lees immer wieder zurückspringende persönliche Trauerbewältigung mit der zeichnerisch zu vergegenwärtigenden Kriegs-Historie. Während Lee es nicht schafft, die Brücken auf dem Papier »aus der Tiefe der Zeit« zu holen, lässt der Tod der Schwester ihn nicht los. Von welcher Art aber das innige Verhältnis zwischen den beiden gewesen ist, das hält der Ich-Erzähler lange anspielungsreich im Ungefähren.
Tiefer und tiefer rutscht Markus Lee in eine Krise, die Bonné konsequent aus der Perspektive des hyperreflexiven Melancholikers schildert. Dessen Horizont zieht sich zusammen: Das Reisegepäck lässt er früh am Straßenrand, die Wohnung auflösen, das Zeichnen stellt er bald ganz ein, er kappt alle Verbindungen und lebt nach der Abreise der Familie und seines Neffen allein in dem maroden Hotel.
Dass er dabei ist, mit dem vermeintlichen Ballast seiner Existenz auch sein Leben wegzuwerfen, bemerkt Lee erst spät. Bonné aber schultert auf dieser Reise in die Depression reichlich literatur- und kunstgeschichtlichen Gepäck, wie schon der Name seines Helden verrät: Kellers »Grüner Heinrich« – dessen erste Fassung mit dem Tod des Heinrich Lee noch einen »zypressendunklen Schluss« (Keller) hatte – gehört zu Markus Lees bevorzugter Lektüre; die Beschäftigung mit Alfred Sisleys Gemälde »Die Überschwemmung der Seine bei Port-Marly« zieht sich durch den gesamten Roman, bis hin zur lebensbejahenden Pointe. Das überraschende und wenig plausible Happy End aber wirkt in diesem trotz seines Anspielungsreichtums angenehm zurückhaltenden Roman wie angeklebt und geradezu ratgeberliterarisch hoffnungsfroh.
Mirko Bonné: »Nie mehr Nacht«; Schöffling, Frankfurt am Main 2013, 355 S., 19,95 Euro
Lesungen: 5. November 2013, Maternus Buchhandlung, Serverinstr. 76, Köln