TEXT STEFANIE STADEL
90 Minuten stehen, 736 Stunden sitzen, zwölf Tage schweigen: Anfang der 1970er verschreibt sich Marina Abramović der Performance. Seither hat sie eine Menge gemacht und mit sich gemacht. Ihr Name steht für eine Kunstgattung, die auf Zeit und Dauer baut. Nach Stationen in Stockholm und Humblebæk ist die spektakuläre Retrospektive der serbischen Künstlerin in der Bonner Bundeskunsthalle angekommen.
Ein Mann und eine Frau, nackt und namenlos. Auf den ersten Blick ist man verdutzt über die Blöße mitten in der Bundeskunsthalle. In einem schmalen Durchgang steht das Paar sich völlig ungerührt gegenüber. Genauso wie einst Ulay und Marina Abramović im Haupteingang der Galleria d’arte Moderna in Bologna. Wer ins Museum wollte, musste sich damals zwischen den beiden hindurchzwängen. Rund 350 Besucher hatten das an jenem Juniabend des Jahres 1977 auch getan und dadurch die Aktion – im Sinne ihrer nackten Erfinder – erst komplett gemacht. Bis die Polizei das als sittenwidrig verdächtigte Kunststück vorzeitig beendete.
In Bonn weicht das Publikum am Eröffnungstag der Abramović-Retrospektive lieber auf Seitenwege aus. Körperkontakt bleibt den zwei jungen Statisten also erspart. Trotzdem tun sie einem irgendwie leid – zum Stillstand verpflichtet und den Blicken ausgeliefert, bis die Wachablösung eintrifft. Doch geht es nicht anders. Re-Performances sind unerlässlich, will man eine solche Ausstellung, zumindest etwas, lebendig sein lassen. Allein mit Fotos, Filmen, Requisiten (selbst, wenn sie so wirkungsvoll inszeniert sind wie hier) ist es nicht getan und wäre Marina Abramović schwerlich beizukommen. Denn ihre Kunst ist Handlung – und wirkt am besten live und in Echtzeit.
Seit 1970 entwickelt sie das Medium Performance fort: konsequent und kraftvoll, radikal, vollkommen rücksichtlos gegen sich selbst. Heute steht ihr Name nahezu stellvertretend für jene Gattung, die Zeit und Dauer als neue Faktoren in der bildenden Kunst etablierte: 90 Minuten lang spielten Abramović und Ulay Türsteher in Bologna; 736 Stunden saß sie auf einem Stuhl im Museum of Modern Art und starrte nacheinander an die 1400 Besuchern ins Gesicht; zwölf Tage lang ließ sie sich in einer New Yorker Galerie beim Schlafen, Duschen und Fasten zuschauen.
In Bonn übernehmen eigens gecastete Performer Abramovićs Job – für die Nummer in Bologna ebenso wie für eine Hand voll weiterer, vergleichsweise harmloser Performances. Zu festgelegten Zeiten stehen die Akteure im Weg oder präsentieren sich, gleichfalls unbekleidet, im Rampenlicht auf einem hoch an die Wand montierten Fahrradsattel. Im Juni will sogar jemand in das rekonstruierte »House with the Ocean View« einziehen, um dort in drei Kabinen vor den Augen der Besucher zu schweigen und zu hungern.
Die Künstlerin selbst beschränkt ihre Präsenz. Am Tag der Eröffnung allerdings nimmt sie sich Zeit für den Auftritt bei der Pressekonferenz. Mitten auf dem Podium sieht man sie ganz in Schwarz, das lange dunkle Haar über die Schulter gelegt. Mit niedergeschlagenem Blick und den gefalteten Händen im Schoß lauscht sie Direktoren und Kuratoren. Als sie schließlich das Wort hat, scheint es wie ein Erwachen. Abramović ergreift das Mikro, erhebt sich schwungvoll aus dem Sessel und legt los. Spritzig, witzig, beinahe wie ein Entertainer wirkt sie, besonders, als sie ihren einstigen Partner Ulay zu sich herauf bittet und Anekdoten ausplaudert. Nicht zu glauben, dass sie die 70 hinter sich hat.
Man kann sagen, die Zeit hat es gut gemeint mit Abramović. Sie scheint in Topform und das angesichts all der Strapazen, die sie sich zugemutet hat: blutige Messerangriffe auf die eigenen Finger, Selbstversuche mit heftigen Medikamenten, Zeichnungen mit der Rasierklinge auf ihrem Bauch. Die Schau lässt nichts aus, präsentiert das Geschehene in eindrucksvoll arrangierten Foto- und Filmaufnahmen, teils mit Originalrequisiten in rekonstruierten Settings.
Noch bevor in der Schau die künstlerischen Körper-Attacken Thema sind, wird eine alte Waschmaschine vorgeführt. So eine hatten die Abramovićs daheim im damaligen Jugoslawien, als Marina ein Kind war. Einen Schleudergang gab es nicht, dafür zwei Walzen, die das Wasser aus der Wäsche drückten. Einmal sei sie mit den Händen dazwischen geraten, erzählt sie, es habe lange gedauert, bis sie jemand befreien konnte. Der Unfall und die Erfahrung eines unausweichlichen Schmerzes wird zum ihre Kunst prägenden Ur-Erlebnis erklärt. Für Abramović ist Schmerz »der Schlüssel zu Geheimnissen«.
Immer wieder setzte sie sich Extremsituationen aus, die sie durchleben will, um einen weiteren Grad der Erkenntnis zu erlangen. So auch 1974 in ihrer Heimatstadt Belgrad, wo sich Abramović in einen brennenden Stern aus Sägespänen legte, zu wenig Sauerstoff bekam und in Ohnmacht fiel. Unglaublich wütend sei sie gewesen, als der Notarzt sie gerettet und die Aktion beendet hatte: »Mein Körper sollte keine Grenzen haben«. Alles Mögliche hat sie durchexerziert, um diese Grenzen auszutesten: stundenlanges Stehen, Gehen, Sitzen, den Verzehr einer großen rohen Zwiebel, Haare kämmen, bis die Kopfhaut blutet.
Um ihren Antrieb zu verstehen, kommen gelegentlich Kindheitserlebnisse, Erinnerungen an eine Jugend ohne Wärme und Zärtlichkeit ins Gespräch. Auch aus Liebesgeschichten und Beziehungsdramen macht Abramović kein Geheimnis. Bei diversen Interviews, gedruckten wie gefilmten, fällt auf, wie freimütig sie Privates preisgibt. Das passt ins Selbstverständnis einer Künstlerin, die nicht trennt zwischen Kunst und Leben, beides ineinander aufgehen lässt.
Das funktionierte auch im Duo. 1977 verlieben sich Abramović und der Kollege Frank Uwe Laysiepen, kurz Ulay, auf den ersten Blick und erheben ihr leidenschaftliches Miteinander fortan zu einer Art Gesamtkunstwerk. Im Kastenwagen tingelte das Paar ohne Geld um die Welt, beschrieb sich als zweiköpfiges Geschöpf, präsentierte seine Werke um Dualität und Symbiose in Ausstellungen oder auf Festivals. Selbst das Ende künstlerischer Innigkeit nach zwölf Jahren wurde theatralisiert zu einer Performance-Sensation auf der Chinesischen Mauer.
Von dem drei Jahre älteren Ulay war seither wenig zu hören. Abramović dagegen ist als Solistin erst richtig durchgestartet. Ein wichtiges Kapitel ihrer Erfolgsgeschichte schrieb sie 1997 auf der Venedig-Biennale. Die Bundeskunsthalle projiziert Videos von dieser Inszenierung und hängt dazu ein rotstichiges Großfoto, das sie bei der strapaziösen Reinigungsaktion auf einem riesigen Haufen frischer Rinderknochen zeigt. Mehrere Tage lang hat sie heimatliche Volks- und Totenlieder intoniert und hingebungsvoll geschrubbt, gegen Ende umnebelt vom süßlich stechenden Hautgout der verderbenden Fleischreste. Scham für die Balkankriege habe sie zur Knochenarbeit getrieben, erläuterte sie und erhielt für »Balkan Baroque« einen Goldenen Löwen.
War sie damals eher noch ein Fall für Spezialisten, hat Abramović sich mittlerweile nahezu Popstar-Status erarbeitet. »The Artist is Present« – mit dieser Ankündigung lockte das MoMA 2010 an die 800.000 Gäste. Alle wollten Abramović live erleben, manch einer nahm eine Nacht auf dem Gehweg auf sich, um ihr gegenüberzusitzen und in die Augen zu sehen. Nicht zuletzt der Hype um die eigene Person bewog sie zum Rückzug. Damit der Prominenten-Kult nicht vom Kunsterlebnis ablenkt, überlässt Abramović den Betrachter immer öfter sich selbst. In Bonn etwa an einem langen Tisch, wo man in Gemeinschaft geduldig Reis zählen kann und dabei vielleicht an Joseph Beuys und seinen Begriff der sozialen Plastik denkt.
Doch keine Angst. Auch wenn Abramović sich neuerdings zurückhält, ganz wird sie nicht verschwinden aus ihrem Werk. Jüngst wurde das Vorhaben für eine Ausstellung 2020 in der Londoner Royal Academy publik, wo sie sich angeblich mit einer Million Volt unter Strom setzen lassen will, um dann mit ihren Fingerspitzen eine Kerze auszublasen. Für dasselbe Jahr ist, wie man hört, auch noch ein Projekt anvisiert, das auf der Bühne der Bayerischen Staatsoper Premiere haben soll.
Lässt man am Ende des Bonner Rundgangs Abramovićs spektakuläres Werk aus 50 Jahren Revue passieren, erscheint es einem selbstverständlich, dass sie sogar ihren letzten Weg als feierliche Performance durchgeplant hat. Gleich dreifach. In Belgrad, dem Ort ihrer unglücklichen Jugend, in Amsterdam, wo sie Ulay traf, und in ihrer Wahlheimat New York soll jeweils ein Grab für sie ausgehoben werden. Für die Teilnehmer der Beisetzungen schreibt sie giftgrüne, rote und violette Kleidung vor. Niemand soll erfahren, wo ihr Körper wirklich ruht, auf das ihr Geist überall schwebt.
BUNDESKUNSTHALLE, BONN
BIS 12. AUGUST 2018
TEL.: 0228 / 91710