TEXT: FRANK MAIER-SOLGK
Der Duisburger Gerhard Kremer, besser bekannt unter dem Namen Mercator, hatte mit seiner »Nova et aucta orbis terrae descriptio ad usum navigantium« von 1569, der großen Weltkarte zum Wohle der christlichen Seefahrt, die Horizonte schon denkbar weit abgesteckt. Dank einer bis dahin ungekannten Projektionsgenauigkeit vom dreidimensionalen Globus auf die zweidimensionale Karte konnten die Seefahrer ihren Kurs seitdem genauer abstecken. Visionäre Unternehmungslust dieser Art hat sich die westlichste Ruhrgebietsstadt, der »größte Binnenhafen Europas«, offenbar bis heute bewahrt – auch wenn die ehrwürdige Duisburger Mercatorhalle in einem weder sprachlich noch architektonisch originellen »City Palais« aufgegangen ist und die Mercator-Universität im Fusionsgebilde der neu gegründeten »UDE«, der Universität Duisburg-Essen, ihren nüchternen Nachfolger gefunden hat. Gleichwohl, an der Mündung der Ruhr herrscht eine geradezu renaissanceartige Aufbruchsstimmung. Gebaut wird im großen Stil – auf Zuwachs gewissermaßen. An der neuen innerstädtischen Kaufmeile, der Königstraße, vis-à-vis dem Stadttheater, eröffnet im September das mit rund 57.000 Quadratmetern Handelsfläche größte jemals in einer deutschen Innenstadt realisierte Einkaufszentrum. Dort wie in der gesamten Innenstadt wird der Masterplan von Lord Norman Foster derzeit peu à peu umgesetzt.
Richtig Aufsehen erregend wird es demnächst dort, wo auch in Duisburg alles beginnt, am Wasser. Am Duisburger Innenhafen sind kürzlich die Entscheidungen für zwei architektonische Ausrufezeichen gefallen, von denen sich die Beteiligten einen weiteren Anschub für die die Auswirkungen des Strukturwandels bewältigende Metropole erhoffen. Mit Unterstützung des Landes werden zum Abschluss der dortigen Konversion zwei Gebäude entwickelt, die ihre Strahlkraft bis nach Düsseldorf senden sollen. Die Architekten Ortner & Ortner (Wien) bauen das neue Landesarchiv, das die bisher an mehreren Standorten in Nordrhein-Westfalen verteilten Akten und Urkunden des Landes zusammenführen wird. Herzog & de Meuron (Basel) haben einen Erweiterungsbau für das MKM Museum Küppersmühle entworfen, jenes Haus, das sie 1999 schon als Auftakt der Verwandlung des Industriehafens in ein Museum für die Sammlung Grothe umgebaut hatten. Beide Neubauprojekte versprechen im wahrsten Sinne des Wortes architektonische Landmarken zu werden: hoch aufragend, die Umgebung durch formal ungewöhnliche Kubaturen dominierend, das eine in dunkelroten Backstein verpackt, das andere zum Teil transparent. Der Innenhafen erhält gewissermaßen über seinem Bestand eine obere Etage.
»Wer Rothenburg ob der Tauber liebt, bekommt hier Pickel«, sagt der Duisburger Kulturdezernent Karl Janssen zur neuen Duisburger Architekturmeile. Zur Verwechslung besteht kein Anlass. Wieder sind es denkmalgeschützte Industriebauten, auf denen gewissermaßen als Basis die tatsächliche und ästhetische Überhöhung erfolgt. Für das neue Archivgebäude erhält der RWSG-Speicher aus den 1930er Jahren, das letzte noch nicht umgebaute Speichergebäude des Duisburger Innenhafens, einen von einem mächtigen Giebel gekrönten Turmaufsatz (Firsthöhe 78 Meter). Die Fassaden des Altbaus werden gereinigt, saniert und der Bau zu einem geschlossenen Monolithen umgewandelt, an den sich ein zirka 160 Meter langer, sechsgeschossiger Büroriegel anschließt, dessen Wellenform in markantem skulpturalen Kontrast zur vertikalen Domi- nante des Archivturms steht. Der Turm ebenso wie der Bürotrakt werden in Anpassung an die Fassaden des Bestandsbaus von dunkelrotem Klinker ummantelt, der jedoch ein neues reliefartiges Muster erhalten wird. Foyer und die öffentlichen Bereiche sollen sich zur Uferpro- menade öffnen, während im Dachbereich ein Veranstaltungssaal geplant ist. Wer später mit dem Aufzug die oberen Ebenen entlang des Speichers erklimmt, wird durch übergroße Bullaugen 134 Kilometer Akten, das »größte Archiv Europas«, vorbeigleiten sehen.
Einige Meter entfernt, im MKM Museum Küppersmühle, hat die viel diskutierte Zusammenführung der Sammlung Grothe mit der Sammlung des Darmstädter Ehepaares Ströher zu einer der weltweit umfangreichsten Sammlungen nachkriegsdeutscher Kunst (rund 1.500 Arbeiten) das Duisburger Kunstzentrum wieder ins Gespräch gebracht. Ob mit oder ohne Androhung, die Sammlung ohne einen zusätzlichen Bau aus Duisburg abzuziehen – der Vorschlag für die Erweiterung von Herzog & de Meuron wird allen Traditionalisten gewöhnungsbedürftig erscheinen. Dabei ist die Lösung – eine leuchtende Schachtel in der Form eines Containers auf dem Dach des Bestandsgebäudes – weniger modisches Spektakel denn eine kraftvoll-bildmächtige, das städtebauliche Umfeld im Geiste weiterführende Lösung. Aufgrund der begrenzten Fläche, die aus städtebaulichen Gründen für eine Erweiterung zur Verfügung stand, haben Herzog & de Meuron den neuen doppelgeschossigen Trakt, der ansonsten an den Bau ebenerdig anschließen würde, auf das bestehende Gebäude mit seinen Getreidesilos aufgesetzt, das er als monumentaler, weit überkragender Körper spektakulär überragt. Zur Aufsehen erregenden Wirkung werden vor allem die transparenten Elemente beitragen, mit der der Kubus umhüllt sein wird. Sie geben dem Erweiterungstrakt das Aussehen eines Leuchtkörpers. Noch offen ist, ob die beiden neuen Ebenen – dies wäre eine konzeptionelle Innovation im Museumsbau – Ausstellungs- und Depoträume im Wechselspiel zusammenführen werden. Am 31. Dezember will Karl Janssen jedenfalls hier oben zur Einläutung des Kulturhauptstadtjahres Silvester feiern.
Mit den beiden architektonischen, bezeichnenderweise wiederum aus ausländischen Büros stammenden Bauten (beide sind auch inhaltlich vergleichbar, dienen sie doch der öffentlich zugänglichen Präsentation und Archivierung kultureller Bestände) bewegt sich der Innenhafen in Richtung seiner Komplettierung. Ansonsten bevölkern mit dem »Hitachi Power Office«, den »Five Boats« (s. K.WEST 3.2005) und demnächst auch dem »Looper« silbrig glänzende Bürowelten die Kais. Nur auf das Fundament beschränken sich noch immer die Arbeiten am sogenannten »Eurogate« von Norman Foster. Der hatte vor zwei Jahren in Fortführung seiner Überlegungen zum Innenhafen auch einen Masterplan für die Duisburger Innenstadt entwickelt und für sie eine stärkere Anbindung an den Hafen, ein Mehr an Blau und Grün vorgeschlagen. Der Duisburger Bahnhof soll durch eine Überbauung der Autobahn näher an die Innenstadt geführt, die Hauptfußgängerzone der Königstraße neu gegliedert und ein neuer öffentlicher Bau, das sogenannte Stadtfenster (Architekten: Bolles + Wilson) für Volkshochschule, Stadtbibliothek und ein neues NS-Dokumentationszentrum errichtet werden. Vor allem aber zog Foster aus dem natürlichen Vorteil der einstigen Hansestadt, der 114 Kilometer langen Wasserfront, den naheliegenden Schluss: Duisburg muss sich insgesamt als Hafen- und Wasserstadt begreifen. Konkret hieß dies: Neue Wohnbereiche entlang der Wasserfront sollen entstehen, aber auch eine pointiertere Gestaltung des öffentlichen Raumes durch einzelne Wasserelemente – Kanäle, Brunnen – in der Innenstadt erfolgen. Hinzu kommt die angestrebte Nachverdichtung durch die Schließung von Baulücken. So hofft man, in 20 bis 30 Jahren die Bebauung um zehn Prozent zu erhöhen und 25 Pro- zent mehr Bewohner der Innenstadt zu erreichen. Und schließlich kann nach Fosters Berechnun-gen – auch dies das langlebige Erbe der 1960er Jahre – getrost auf ein Drittel der jetzigen Verkehrs- flächen verzichtet werden. Im magischen Jahr 2010 soll Duisburg mit Blick auf seine Lage, seine Geschichte und seine erhoffte Zukunft trendgemäß »Hafen der Kulturhauptstadt« heißen.
Manchen Entdeckungsexpeditionen haben die natürlichen Elemente ihre Grenzen gesetzt. Im Fall von Duisburg sind dies keine Stürme, die gefährlichen Dämonen heißen vor allem Demografie und Kaufkraft. Seit den Hochzeiten in den 1970er Jahren ist die Einwohnerzahl der Stadt von etwa 600.000 auf heute rund 500.000 zurückgegangen. Ähnlich wie in anderen Ruhrgebietsstädten wird die Bevölkerung älter; die Kauf- kraft ist gering (zirka 40 Prozent aller Eltern, deren Kinder in den Kindergarten gehen, sind von entsprechenden Beiträgen befreit, d. h. verdienen weniger als 12.500 Euro im Jahr), die Arbeitslosenquote beträgt annähernd 15 Prozent. So wird eines der interessantesten Projekte, die »Living bridge« über die Ruhr, wohl nicht wie geplant eine Nutzung als Wohnstätte finden. Eine 230 Meter lange, in einem weiten und hohen Bogen auf zehn Geschosse ansteigende ponte moderna, entworfen von Bothe, Richter und Teherani (die ein ähnliches Projekt in Hamburg planen), sollte mit exlusiven, großzügig mit Terrassen ausgestatteten Appartements zahlungskräftige Mieter in die Stadt führen. Bei Quadrat- meterpreisen von zirka 5.000 Euro und angesichts des bestehenden Wohnungsleerstands, so die Auskunft von Investor Kölbl Kruse, ein derzeit aussichtloses Unterfangen. Im Moment sucht man stattdessen die geeigneten Unternehmen für diese exklusive Lage. Kein Grund jedoch zum Verzweifeln. Die Entdecker neuer Kontinente brauchen eben einen langen Atem.