Der Abgrund ist schon da, lauernd, gähnend. Die Bühnenmaschinerie des Schauspielhauses Bochum legt ihn offen. Was tut es da, dass noch ein paar Möbel wie vom Trödel herumstehen, ein breites Doppelbett hydraulisch hochgefahren wird und ein rostiges Bassin in Blau das Meer ersetzt.
Der Ort ist eine kleine Stadt, aber in Wahrheit der Kampfplatz Leben. Der Abgrund wohnt in Johan Nilsen Nagel selbst, der in Gestalt von Steven Scharf wie von ungefähr und beiläufig von der Seite her auftritt und zunächst kein Wesen von sich macht. Als »Scharlatan« wird er vorgestellt, ein Flunkerer und Gernegroß wohl auch, ein aasiger Stenz im kanariengelben Anzug, den die Roman-Vorlage verlangt, ein Verzweifelter nicht minder. Alles in Allem ein radikal moderner Mensch von 129 Jahren. Und in vielem Alter Ego seines Autors Knut Hamsun.
1939 schreibt Sigmund Freud in einem Brief an Albert Einstein darüber, »…dass die Moralität selbst ein kriegerisches Element in sich trägt, weil etwas und jemand besser sein will, als der andere«. Eine so hellsichtige wie wagemutige Erkenntnis, zumal formuliert in dem Jahr, als Hitler die Welt verbrecherisch in den Krieg stürzte. Das, was mit Unheil, Unrecht, ideologischer Verseuchung und Menschheits-Schande von Nazideutschland ausging, hat sich vielgestaltig dargestellt. Auch der als Knud Pedersen 1859 in Lom / Oppland geborene Knut Hamsun hat sich infizieren lassen und wurde ein Verfemter. Hamsun war der Verkennende und ist der Verkannte. Der »Wallungswert« (Gottfried Benn) des moralischen Brennwortes Verräter und Kollaborateur haftet an ihm. Gleichwohl ist er ein großer Moderner, der aus dem Gegengeist heraus dachte und wirkte, der den inneren Monolog zum Stilprinzip machte, dessen Werk das schwankende Ich erzählend ausformt.
Hamsun verarbeitet seine bitterarme Kindheit und Jugend in seinem Roman-Debüt »Hunger«, kämpft um seinen Broterwerb, sucht 1882 in Amerika sein Glück, das er nach einem zweiten Besuch als seelenlose Gesellschaft angewidert verwirft, und etabliert sich nach seiner Rückkehr in Norwegen als freier Schriftsteller. 1892 erscheint »Mysterien« mit dem charismatischen, provokativen Helden Johan Nilsen Nagel. Dieser »Ausländer des Daseins« wird sich selbst im Meer ertränken. Hamsun bekommt für sein 1917 publiziertes Buch »Der Segen der Erde« den Nobelpreis. Er begrüßt die Nazis mit ihrem Blut- und Bodenmythos und ihren wüsten irrationalen Fantasien, macht sich in seiner Heimat unmöglich und schuldig und bleibt bis zu seinem Tod 1952 Unperson.
Das entfesselte, zugleich in seinem existentiellen Sein gebundene Ich, das den Autor und seinen Johan Nagel kennzeichnet, geht uns als Typ und Charakter immer noch an, mehr noch sein psychisches ›Mysterium‹, dessen Erkundung Hamsun bei Dostojewski und Nietzsche vorgebildet fand. Die Linie zieht sich weiter, bis zu Camus’ Fremdlingen, Max Frischs Rollenspielern und Ich-Täuschern oder Ciorans hellsichtigen Schwarzsehern.
Gestische Zeichenrätsel und Sprach-Akrobaten
Dieser Roman ist das ausschweifende Konstrukt eines geistigen Zustands. Seine Handlung beansprucht mehr Kopf als Welt. Es gibt in »Mysterien« zwei Liebeswerbe-Geschichten, die kaum das Prädikat ›Scheitern‹ verdienen, mit der älteren Martha (Karin Moog) und der jungen Pfarrerstochter Dagny (Anne Rietmeijer) sowie die seltsame Beziehung zu dem zu kurz gekommenen, »Minute« genannten Freund-Feind Johannes (Guy Clemens) und einige Figuren und Episoden mehr. Einmal erscheint auf der Rückwand groß ein Flimmern wie während einer Bildstörung des Fernsehens: Die Welt ergraut in Unschärfe. Als wäre es ein Film von Antonioni, so begegnen die Personen hier dem Liebes-Krüppel, Schau-Steller und Traum-Seher blinder Engel namens Nagel. Manchmal lässt der sich souverän verschwendende Steven Scharf an Tschechow denken.
Johan Simons räumt mit lässiger Hand die Bühne von Anja Rabes auf, so dass die sechs Darsteller wie Figurinen auf einer De Chirico-Piazza zu stehen scheinen, lässt sie gestische Zeichenrätsel sein, pantomimisch, tänzelnd, neurasthenisch sich gebärden, lässt sie Sprach-Akrobaten sein, die als reale Phantome ihren Text wie eine Partitur oder Kommentare vortragen. Sie sehen aus wie ausgeschnitten für ein künftiges Bilderalbum des Expressionismus. Herb und schroff, zwanghaft getrieben, grausam, glücklos und von bitterer Erkenntnis – so geht es zu bei diesen menschlichen Denk-Maschinen. Und in greller Komik, wenn Nagel den von ihm gemeuchelten Hund Dagnys als Plastikbalg als Bettgenossen hat, und wenn ihm sein Gift-Suizid im Schneewittchen-Sarg durch einen Trick misslingt. Tote leben hier länger.
Fast wie zum Trost erklingt Musik. Mit einem schönen Effekt werden Streicher der Bochumer Symphoniker, die Kompositionen von Carl Oesterhelt spielen, nicht nur in der Bühnentiefe schemenhaft sichtbar, sondern mit ihren Clownsgesichtern in Projektionen als augentäuschende Vision auf den Seitenwänden des Parketts. Ein schwebend leichtes Element in diesem imaginären Kunstweltseelen-Raum.
Termine: 18. September, 3. und 23. Oktober, Schauspielhaus Bochum