Vater, Mutter, Kind? Es ist das klassische Bild der Familie in der christlich-abendländischen Kultur, das in dem Stück »Kisses from snail« untersucht und auch hinterfragt wird. Auf der Bühne performen drei Tänzerinnen inmitten roter Fäden – angedeutete Familienverstrickungen – und zitieren biografische O-Töne. »Ich muss Mutter werden, damit ich mit Stolz in Athen rumlaufen kann«, spricht etwa Darstellerin Phaedra Pisimisi in ihr Mikro. Wie lassen sich die Erwartungen der Gesellschaft oder des Staates, wie lassen sich religiöse Konventionen mit den eigenen Vorstellungen in Einklang bringen? Das sind Fragen, die das Künstlerinnen-Kollektiv waltraud 900 an diesem Abend stellt und zu einem lustvollen Spiel entwickelt, um eine neue Sicht auf Verwandtschaft und Familie zu wagen.
Die Choreografin und Tänzerin Phaedra Pisimisi, die Performerin und Regisseurin Bianca Künzel, die Ausstatterin Ria Papadopoulou und die Dramaturgin Dorle Trachternach gründeten 2019 das Düsseldorfer Kollektiv waltraud900. Sie beschäftigen sich vor allem mit den Themen Identität und gesellschaftliche Zugehörigkeit, betrachten sie dabei aus einer feministischen Perspektive. In ihren Projekten geht es meist um Frauen und um das Bild von Frauen: Wie leben Frauen heute, wie lebten sie früher, hier und in anderen Ländern? »Kisses from snail« ist der zweite Teil einer Trilogie, die sie mit dem Blick auf die Großmütter und damit auf das kulturelle Erbe, das jede*r mit sich trägt, mitten in der Pandemie starteten. Da suchten sie nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten in den Leben ihrer deutschen, griechischen, iranischen und palästinensischen Großmütter von den Anfängen des frühen 20. Jahrhunderts bis heute.
»Daughters of the future«, der dritte Teil der Reihe, feierte im November Premiere im Düsseldorfer Forum Freies Theater (FFT) – eine energievolle, zeitgemäße Überschreibung des antiken Iphigenie-Stoffes. Dafür holte das Kollektiv einen Chor aus Jugendlichen auf die Bühne, divers und international besetzt. Gemeinsam erfanden sie Iphigenies Geschichte neu: In dem von Euripides überlieferten Mythos soll sich die Königstochter für das griechische Heer opfern. Sie soll die Götter gnädig stimmen, damit die wieder die Winde wehen lassen und die Krieger nach Troja aufbrechen können. Dort wollte Agamemnon Krieg führen – und noch mehr Frauen ins Unheil stürzen. Ist Iphigenie eine Heldin? Für welche Opfer stehen die Töchter der Zukunft nicht mehr zur Verfügung? Ist es überhaupt möglich, der Familie Widerstand zu leisten? Diese und andere Fragen stellte sich das Ensemble. Und die Antworten? Sie sind ein Plädoyer für die Selbstbehauptung. Denn in »Daughters of the future« sind es die Töchter, die in Zukunft ihre Stimme erheben werden.
»Kisses from snail«
Freies Werkstatt Theater Köln
1. und 2. Dezember