Am Ende auch des Romans kommt wieder die Flut. Pferde – in der Kinderzeit war es – hatten sich, eine riesige Herde, vor dem steigenden Novemberwasser auf den Groden gerettet, ein flaches Stück Restland im Watt. Panisch scheuten die Tiere, Boote zu betreten. Alle würden sie ertrinken. Da kommen, am dritten Tag, »wie aus dem Nichts die vier Frauen in das Außendeichgebiet geritten.« Sie treiben ihre Pferde ins Wasser, sie legen der Leitstute einen Halfter um, sie ziehen sie hinter sich her zurück an Land. Die Herde folgt. »So brav, so lieb, so glücklich.«
»Sturmflut« war 2006 Margriet de Moors wahrscheinlich bisher größter Roman, er erzählt von dem tödlichen Hochwasser, das die Niederlande 1953 heimsuchte, und zugleich von einer anderen unbeherrschbaren Gewalt, dem Begehren, der Liebe. Das Sanfte und im nächsten Moment Tosende, das sich dem Verstand und dem Beschreiben Entziehende – Wasser, Gefühl, das ist der Stoff der 1941 in Noordwijk geborenen, gelernten Pianistin und Sängerin; keiner weiß das nicht Fassbare so wie sie in Worte zu fassen.
Und jetzt »Mélodie d’amour«. Die vier Amazonen der vier miteinander verbundenen Teile dieses Romans sind Atie, Cindy, Roselynde, Myrte. Sie lieben, und das heißt jedes Mal: maßlos; auf je andere Art. Mag sein, sie retten auch: dann ihre Männer. Atie (50er, 60er Jahre, Rotterdam) liebt ihren Mann Gustaaf, und zwar auch, weiter, klaglos, als der eine Beziehung mit Marina beginnt und diese ein Kind von ihm bekommt. Fällt dann in eine unheilbare Nervenkrankheit. Stirbt. Mit ihrem Tod beginnt der Roman, und diese erste (und nur diese) Liebesgeschichte weiß auch etwas von den Gefühlen des Mannes zu erzählen, der von der Frau, die er verraten hat, genauso nicht loskommt wie die Verratene von ihm. Aneinandergeschmiedet, gehen sie beide getrennt voneinander unter.
Dann wechselt der Roman zur Ich-Form und zu Cindy (Anfang der 90er, Amsterdam), sie hat sich Aties und Gustaavs Sohn Luuk als den für sie bestimmten Mann ausgesucht. Doch auch in dieser Liebesgeschichte entfaltet sich kein Traum von einer besseren Welt. Cindy hat im Grunde nur sich, wild und mörderisch; aus der Affäre wird Stalking. Von ihrem von ihr selbst schicksalhaft überhöhten Begehren auf den Besen gesetzt, landet sie eines Tages mit einer Pistole in der Hand vor Luuk und seiner neuen Geliebten Roselynde. Das neue Paar nun verbindet das schiere Gegenteil: Ruhe, Geborgenheit. Für Roselynde ist Luuk wie ein gepolsterter Kinosaal, in dem sich ihre Erinnerung an ihre mehr als geschwisterliche Liebe zu ihrem Bruder Rogier entfalten kann. Sanft, aber nicht weniger gründlich wird die Gegenwart von der Vergangenheit überblendet, die dito eine tödliche ist. Weil die Schwester ihren Bruder an ihre beste Freundin und dann den Bruder selbst verlor.
Auch die vierte Frau, Myrte, Luuks Ehefrau, hat mehr geliebt als sie liebt. Und zwar am allerabsonderlichsten, rührendsten von allen: einst den todkranken, alten Vater ihrer Freundin, und ihm so ein paar Monate Weiterleben beschert. Hier verschmelzen die Stationen einer langen Wanderung der Erzählerin durch das niederländische Friesland mit den Einsamkeiten und Freundschaftssehnsüchten ihrer Kindheit, so wie der weiße Himmel mit dem hellen Meer verschmilzt. »Die Gegenwart ist nicht weniger wirklich als die Vergangenheit«, heißt ein Satz, dem man erst beim zweiten Lesen seine Richtung anmerkt.
Mélodie d’amour, Maladie d’amour, Masken des Begehrens … De Moors Roman verrät kein Warum und Woher der Liebe, aber zeigt dafür die große, schwere Fülle des Wie, eines weiblichen Wie. So war der Blick Aties, wie Gustaaf ihn erinnert: »traurig und begehrlich, hasserfüllt und verliebt, versöhnlich und rachsüchtig, ratlos, weil sie ihn so oder so verlieren würde«.
Margriet de Moor: »Mélodie d’amour«; aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen, Hanser Verlag 2014, 21,90 Euro
Lesungen: 1. April 2014, Buchhandlung Müller im Heine Haus Düsseldorf, 2. April, Literaturverein Münster