TEXT: REGINE MÜLLER
Mittagszeit, die Sonne steht hoch am östlichen Himmel von Warschau. Die Hitze und sommerlich heitere Stimmung ignorierend, taucht Krzysztof Warlikowski auf der Terrasse des Restaurants in einem warmen Pullover auf. Bleich und hager, ein Winter-Mensch. Eine Art freundliches Desinteresse umgibt ihn. Doch dann redet er sich schnell in Rage, intensiviert seinen bohrenden Tonfall, der nur gemildert wird durch die Fremdsprache Englisch. Viel verrät er nicht über seine Annäherung an Prousts monumentalen Roman-Zyklus »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Natürlich könne es keine Adaption sein, »das will ich nicht einmal vortäuschen. Es ist vielmehr eine Inspiration«.
Warum nennt er seine Proust-Kontaktnahme »Die Franzosen«? Zunächst einmal sei er »sehr stark beeinflusst von der französischen Kultur. Das gilt generell für Polen, es gibt seit jeher eine innige, fast sentimentale Beziehung zwischen den Kulturen. Auch historisch begründet, denn wir haben nie Krieg gegeneinander geführt. Zwischen uns liegt eben Deutschland!« Sodann, seine Textfassung beziehe sich, bis auf eine kurze Passage von Fernando Pessoa, ausschließlich auf Proust. »Aber ich konnte es doch unmöglich ›Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‹ nennen, das wäre ein hohler Titel, bei dem man schon einschläft, wenn man ihn hört.«
Die Proben zu »Die Franzosen« laufen seit Monaten in Warschau. Ein halbes Jahr insgesamt. Das ginge nicht im regulären, institutionalisierten Betrieb. Wohl aber in Warlikowskis Nowy Teatr, das offiziell im Oktober eröffnen und kein traditionelles Theater sein wird, sondern ein multifunktionaler Ort. Er habe das »normale Theater längst verlassen und die kanonisierten Theatertexte«. »Ich hatte das Glück, dass man mir Geld gab für mein eigenes Theaterprojekt. Weil meine Schauspieler berühmt sind. Und weil ich berühmt bin«, lacht er.
Umwerfende Musikalität, kombiniert mit untrüglichem Sinn für fiebrig zwingende Bilderfluten und Mut zu archaischem Pathos zeichnen Warlikowskis Bühnenarbeiten aus. Sie sind zugleich von zeitloser Wucht und hellsichtiger Gegenwart.
Weshalb unbedingt Proust? Da holt er weit aus. Für Warlikowski, den 1962 in Stettin geborenen, den Dandy kultivierenden Künstler, gibt es nur wenige Dichter vom Format Prousts; er zählt auf: Thomas Mann, Dostojewski, Kafka. »Wie Proust kreisten diese Dichter um das Ende einer Zeit, nämlich der vor dem Ersten Weltkrieg. Die Umbruchphase zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert, als die Hierarchien zusammenbrachen, die Weltordnung sich radikal veränderte und eine Kultur unwiederbringlich zerstört wurde. Das ist durchaus zu vergleichen mit dem Untergang der Kultur der Maya. Proust und Kafka waren Propheten. Sie haben den seltsamen Zustand, in dem Europa sich jetzt befindet, voraus geahnt. Auch Pessoa! Wenn man seinen Text ›Ultimatum‹liest, glaubt man, dass er das heutige Europa beschreibt«.
Aber das ist noch nicht alles, was ihn zu Proust motiviert. Für den Dichter der »Recherche« spielte die Dreyfus-Affäre eine große Rolle – »ein Fundament seines Romans. Und ein höchst aktuelles Phänomen! Bei Charlie Hebdo gingen die Franzosen zu Tausenden auf die Straße, mit einer zweifelhaften Besetzung in der ersten Reihe. Das war die letzte französische Revolution! Doch wer ist nach den Anschlägen auf französische Juden auf die Straße gegangen?«, fragt Warlikowski.
Noch etwas fasziniert ihn an Proust. »Er war auch ein Lügner, musste es sein, der als Homosexueller aus seinem Roman-Alter-Ego Swann einen Liebhaber von Frauen machte«.
Vor 13 Jahren hat sich Warlikowski, der u.a. Giorgio Strehler, Ingmar Bergman und Peter Brook assistiert hat und mehrfach von Gerard Mortier für die Pariser Oper engagiert wurde, erstmals mit einer Dramatisierung von Prousts Roman beschäftigt, zu sehen beim Festival »Theater der Welt« – in Bonn. Damit habe sein neues Projekt nichts mehr gemein, sagt er. Es sei eine ganz andere Zeit gewesen. Sein Resümee: »Heute leben wir in einer leeren Zeit, die um das Jahr 2000 schleichend begann, nach all den Hoffnungen durch den historischen Umbruch in Osteuropa, als wir noch nicht an Geld und Zukunft dachten, als wir noch graue Intellektuelle waren, im kommunistischen Polen aufgewachsen. Aber dann sind wir irgendwie verdorben, die Energie verpuffte. Ein Phänomen, das beide Seiten betrifft, nicht nur die Gesellschaft, auch uns Künstler. Wir befinden uns in einem toten Moment.«
Um als Künstler gegen diese Stagnation anzugehen, brauchte es für ihn »eine schlüssige Diagnose. Doch man kann für die heutige Zeit keine Diagnose wagen. Als Künstler kann ich nur darauf warten, wieder aufzuwachen. Oder es wird so weitergehen, noch über Jahre.« Die Welt im Wachtraum, die Welt der Schlafwandler – eine Proust-Fantasie.
Wer eine Warlikowski-Inszenierung der letzten Jahre kennt, muss energisch widersprechen. Auch wenn er als Theaterregisseur bei uns wenig präsent ist, seine Arbeiten für die Oper sind von brennender, verstörender Brisanz. Sein Brüsseler »Don Giovanni« etwa zeigte schonungslos und mit einigem Zynismus eine übersexualisierte Gesellschaft. Alban Bergs »Lulu«-Partitur (ebenfalls in Brüssel) verlängerte er mit stummen Einlagen und ließ Rosalba Torres Guerrero aus Alain Platels legendären »Les Ballets C de la B« fünf quälende Minuten ein Sterbesolo tanzen und sich als schwarzer Schwan die Federn einzeln ausreißen, während man nur das dumpfe Plockern der Spitzenschuhe auf dem Bühnenboden hört. Dabei sieht der Tänzerin auch Lulu zu, kostümiert als weißer Schwan. »Lulu« ist für ihn die letzte echte Oper: »Kein Komponist hat mehr in seine Libretti investiert. Ich weiß, danach gibt es noch Zimmermanns ›Soldaten‹, und aktuelle Opernkomponisten wie Ades, aber das ist doch alles kommerziell! Auch Penderecki schreibt letztlich auf Bestellung«. So bohrt er in der Wunde seines Unglücks mit der Gegenwart.
Warlikowskis Lieblingswort ist »vulgar«. Er spricht es betont breit aus, gedehnt wie Clawdia Chauchat auf dem »Zauberberg«, darauf kauend wie auf einem Kaugummi. »Ich bin umgeben von Vulgarität! Wenn man in Warschau in eine Opernpremiere geht, erlebt man etwas, wie sonst nirgends auf der Welt: 100 Paparazzi warten auf Celebrities aus TV-Shows!« Das Fernsehen verdammt er als »Gift« und »Horror«, wo es keinerlei Ethik mehr gebe. Sollte das Theater dagegen halten, als moralische Instanz im Sinne Schillers? »Theater ist nicht moralisch. Aber Theater ist engagiert und politisch. Jedes Stück über eine Frau ist automatisch ein politisches Stück!«, so Warlikowski. Ein Stück über das Pariser Fin de siècle bei ihm vermutlich auch.
»Die Franzosen« nach Marcel Proust, Regie: Krzysztof Warlikowski, 21. – 23. und 28. – 30. August 2015, Maschinenhalle Zweckel, Gladbeck.
Mit freundlicher Unterstützung der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit. Kooperationspartner: Polnisches Institut Düsseldorf. Eine Koproduktion der Ruhrtriennale und des Nowy Teatr mit weiteren Koproduzenten.