TEXT UND INTERVIEW: CHRISTOPH VRATZ
Sein größtes Kompliment, das er erhalten habe? Da muss Michael Tilson Thomas, 1944 in Los Angeles geboren, nicht lange überlegen. »Er erinnert mich an mich«, soll Leonard Bernstein über seinen jungen Kollegen einmal gesagt haben. Zwar teilt MTT, wie er gemeinhin und aus praktischen Gründen genannt wird, mit Maestro Bernstein weniger das überschäumende Temperament und Entertainer-Talent – auf dem Podium und jenseits davon, doch gibt es unübersehbare Verbindungslinien. Tilson Thomas scheut sich nicht, Musik vor Publikum zu erklären – wie Bernsteins bei seinen legendären öffentlichen Lectures; außerdem liebt er die amerikanische Musik, so glühend, wie vor ihm vielleicht wirklich nur der Komponist der »Westside Story«. Kaum einer der derzeitigen Groß-Meister kümmert sich so ausdauernd und nachhaltig um die Musik seines eigenen Landes wie der Koussevitzky-Preisträger von 1969 in Tanglewood: mit Charles Ives, Copland, aber auch Frank Zappa und Duke Ellington. Es wundert nicht, dass diese Musik auch den Komponisten Tilson Thomas inspiriert hat. Zu seinen Werken zählen »From the Diary of Anne Frank«, »Poems of Emily Dickinson« und »Shówa / Shoáh«, entstanden zum 50. Jahrestag des Bombardements von Hiroshima.
K.WEST: Wie hat Ihre Laufbahn als Komponist begonnen?
MTT: Ich war beinahe noch ein Kind – spielte damals viel Klavier und improvisierte auch viel. Wenn ich auftreten sollte, war ich manchmal zu bequem, um richtig zu üben. Da war es dann einfacher, wenn ich mir selbst ein neues Stück ausdachte.
K.WEST: Lässt sich der Prozess des Komponierens beschreiben?
MTT: Schwer, weil er meist sehr unterschiedlich ausfällt. Manche Ideen kommen plötzlich und gewissermaßen wie am Fließband, andere erweisen sich als zähe Geburt. Natürlich achte ich in erster Linie auf die Stimmungen, die ich vermitteln möchte, nicht auf die Zeichendichte in einer Partitur. Doch wenn ich die Noten aufschreibe, lasse ich mich auch vom Verlauf der Melodien und Harmonien beeinflussen.
K.WEST: Sie haben zwischendurch eine längere Pause als Komponist eingelegt. Ist Ihnen die Rückkehr ans Pult schwer gefallen?
MTT: Ich kam mit einem anderen Bewusstsein für die Musik zurück. Es ging nicht mehr nur um Kategorien wie »glücklich« oder »traurig«. Zwischenbereiche schienen mir nun viel wichtiger. So können Harmonien leicht zu Missverständnissen führen; ein Des und ein Cis sind zwar dieselben Noten, setzen aber unterschiedliche Prozesse in Gang. Das war mir natürlich nicht grundsätzlich neu, aber ich habe dem viel größere Aufmerksamkeit gewidmet.
K.WEST: Haben Sie die Hörer im Sinn, für die Sie schreiben?
MTT: Ich komponiere nicht für Fachleute. Ich schreibe meine Musik um auszudrücken, wie ich fühle und das Leben empfinde. Dabei geht es um ganz elementare, einfache Dinge, mal um Humor, mal um Trübsal. Was mich am meisten beglückt, ist, wenn Menschen, die mit klassischer Musik sonst wenig verbinden, eines der Stücke hören und davon berührt werden.
Michael Tilson Thomas ist für ausgefallene Projekte zu gewinnen. 2009 half er mit, via YouTube ein Orchester zusammenzustellen. Aus 3000 Musikern, die sich über das Internet beworben hatten, bildete sich ein Klangkörper, der in der renommierten New Yorker Juillard School drei Tage lang probte und anschließend in der Carnegie Hall ein Konzert gab. Später war es für die ganze Welt bei YouTube nachzuerleben. 2011 gab es eine Neuauflage in Australien. Mit »Keeping Score« hat Tilson Thomas ein Education-Programm entwickelt, das junge Leute für Klassik begeistern soll. Es wurde zur Erfolgsstory und mehrfach mit Preisen ausgezeichnet.
K.WEST: Worauf kommt es Ihnen bei solchen Projekten an? Doch vermutlich nicht nur aufs Pädagogische.
MTT: Ich möchte zeigen, wie wichtig der Atem in der Musik ist. Ich bin überzeugt, dass jedes Stück mit dem richtigen Atmung beginnt, noch bevor der erste Ton erklingt. Als Dirigent kann ich dazu beitragen, Musikern und Hörern diesen Atem zu vermitteln und so die Organisation der Musik verständlich zu machen. Sie ist ja keine kühle Abfolge einzelner Phrasen, sondern lebt von ihren Übergängen. Musiker und Hörer sollen ein Gespür für das Jetzt bekommen, das von zentraler Bedeutung ist. Das ist mehr als ein Gerüst aus Takten. Musik ist Bewegung, ist etwas Lebendiges.
K.WEST: Seit 1995 sind Sie Chef beim San Francisco Symphony Orchestra. Wie lange hat das Orchester gebraucht, um Ihre Vorstellungen umzusetzen?
MTT: Glücklicherweise geht das bei guten Orchestern sehr schnell. Das San Francisco Symphony verfügt über ein sehr feines rhythmisches Gefühl, enorme Verve und große Vielfalt eigener Klänge. Ich ermutige das Orchester dazu, möglichst viele solcher Klänge auszuprobieren, egal ob bei Ives, Tschaikowsky oder Mahler. Diese Vielfalt erstreckt sich auch auf die Art des Vibratos oder auf die Transparenz des ganzen Orchester-Apparates – je nach Anspruch des jeweiligen Repertoires.
Tilson Thomas, Enkel einer russisch-jüdischen Theaterfamilie, die in New York das »Yiddhish Theatre« mitbegründete, ist in den USA längst eine Ikone. Zwar wird auch er clever vermarktet – ein lang zurückliegender Karriereknick nach amtlich festgestelltem Drogenbesitz hat ihm langfristig eher genützt –, doch braucht MTT keine Promoter. Seine Popularität beruht auf anderem und ist kein kurzfristiger Hype. Mit Ausnahme eines Engagements als fester Gastdirigent beim London Symphony (von 1988 bis 1995) ist er in Europa vergleichsweise selten anzutreffen. Einzig die mit seinem San Francisco Orchester produzierten CDs drängen auf den hiesigen Markt und haben den unterschätzten Künstler bekannt gemacht. Vor allem sein Mahler-Zyklus gilt als diskografische Großtat.
K.WEST: Mahlers Musik fordert die Suche nach Ursprünglichem einerseits und verlangt analytische Feinarbeit andererseits. Wie finden Sie da die Balance?
MTT: Es ist interessant, dass es diesen Unterschied auf höchstem musikalischen Level nicht gibt. So kann die formale Struktur der stärkste emotionale Faktor eines ganzen Stückes sein. Das Material kann sehr dünn sein, nahezu unbedeutend. Doch was mit ihm passiert, welchen Prozess es durchlebt, ist ausgesprochen kraftvoll, emotional und einnehmend. Ein kleines volksmusikalisches Thema, das Mahler so nebenbei andeutet, kann im weiteren Verlauf eine Reihe neuer Charaktere annehmen – kann gar eine Katastrophe auslösen.
K.WEST: Welche Bedeutung hat für Sie das Naturhafte in Mahlers Musik?
MTT: Naturlaute – Glockenklang, Dorfmusik oder Ähnliches – gleichen der Eröffnung eines Horizonts. Vor allem in Mahlers Erster Sinfonie. Es ist ähnlich wie am Beginn von Beethovens Neunter oder in vielen Bruckner-Sinfonien: eine große Linie am Horizont, die sich abzeichnet. Sie wirkt zunächst vage, rückt dann aber näher oder bleibt dezent im Hintergrund, wie eine Folie. Doch immer setzt sie bei Mahler unberechenbare musikalische Prozesse in Gang.
Tilson Thomas’ Mahler-Verständnis lebt von überraschenden Momenten. Auffallend seine lang gedehnten Tempi. Die groß angelegten Bögen aber brechen nicht auseinander. MTT gelingt der Gratwandel zwischen kalter Beobachtung der Partitur und deren expressiver Ausweidung ohne vordergründige Effekte. Er lässt, wie im Fall der Sechsten, der »Tragischen«, den pathetisch-grimmigen Charakter der Musik aus sich selbst erwachsen. Dabei kann er sich auf die famose Blechfraktion seines Orchesters verlassen. Auch die Aufnahmen der Mahler-Lieder, u.a. mit Thomas Hampson, sind ergreifend.
K.WEST: Sind Ihnen die Ausmaße der heutigen Mahler-Rezeption manchmal nicht auch suspekt? Lange im 20. Jahrhundert wollte niemand etwas von seiner Musik wissen.
MTT: Mahler hätte sich nie vorgestellt, dass seine Werke so oft aufgeführt werden würden. Er dachte, dass ein Orchester, das meist Opern spielt, hin und wieder auch ein sinfonisches Konzert spielen würde, und dass nach vielen Proben ein paar Aufführungen dabei herauskämen, als besonderes Ereignis. Doch niemals, dass im Rahmen von Abonnement-Konzerten in der einen Woche die Neunte, in einer anderen die Siebte gespielt werden würde.
Inzwischen ist MTT’s Mahler-Zyklus abgeschlossen. Obwohl über einen Zeitraum von 13 Jahren entstanden, wirkt er als Einheit. Ein Spiegel dessen, was Tilson Thomas in San Francisco geleistet hat, ein Spiegel seines Selbstverständnisses als Dirigent.
Konzerte mit MTT und dem London Symphony Orchestra: 8. Sept. Werke von Beethoven und Mahler; 9. Sept. Werke von Beethoven, Ives, Berlioz.
Das Festival steht in diesem Jahr unter dem Motto »Eigensinn«. Passend dazu sind prominente Grenzgänger zu Gast. Neben MTT und den Londonern gastieren u.a. Kent Nagano und das Bayerische Staatsorchester (15. Sept.) mit Schubert und Bruckner sowie die Geiger Daniel Hope (13. Sept.), Patricia Kopatchinskaja (17. Sept.) und Isabelle Faust (21. Sept.). Esa-Pekka Salonen führt mit dem Philharmonia Orchestra alle neun Beethoven-Sinfonien auf, dazu zeitgenössische Werke (ab 3. Okt.). Weitere zyklische Aufführungen gibt es mit dem Borodin Quartett, das an vier Abenden Musik von Beethoven und verschiedenen russischen Komponisten präsentiert (ab 24. Sept.). András Schiff beginnt einen Zyklus aller 32 Klaviersonaten Beethovens: In dieser Saison dringt er an drei Abenden bis op. 28 vor (ab 23. Sept.), Fortsetzung folgt dann im nächsten Jahr. 7. September bis 7. Oktober 2012. www.beethovenfest.de