TEXT: ANDREAS WILINK
»Denen da oben ist es egal, die kaufen sich einfach was Neues«, sagt Simon, als er wieder mal einen seiner Raubzüge erledigt hat. Zur Beute des zwölfjährigen Diebs gehören Baguette-Sandwiches, auch ein Tannenbaum, wenn es weihnachtet, Winterkleidung, vor allem aber Skier. Er hortet die Ware an verschiedenen, clever angelegten Verstecken und verkauft sie. Simon lebt – angeblich ohne Eltern – mit Louise zusammen, seiner scheinbar älteren Schwester. Ihre Wohnung in einem Hochhauskasten liegt dort, wo die Schweiz nicht schön ist: im Tal, in einem belanglosen, ausgelaugten Gewerbe- und Industriegebiet. Zur Schule geht er nicht. Wie die beiden an den Behörden vorbei existieren, erfährt man nicht. Und es interessiert Ursula Meier nicht sehr, die als Regisseurin den belgischen Brüdern Dardenne wahlverwandt ist. Die soziale Frage steht hinter der psychologischen Studie zurück. Meier legt es geradezu darauf an, Simon und Louise zu isolieren und in einen fast künstlichen Bannkreis zu stellen. Ähnliches passierte in ihrem vorherigen Film »Home«, wo eine Familie in ihrem Haus als letzte Bastion einer Autobahn trotzt, die direkt vor ihrer Tür gebaut wurde, und sich total einbunkert. Auch die Metaphorik von »Winterdieb« ist augenfällig. Hoch auf den Gipfeln und Pisten vergnügen sich die wohlhabenden Touristen, genießen den Wintersport und sonnen sich gewissermaßen im Überfluss. Unten in der Ebene hat die weiße Landschaft braune Flecken und ein grau betoniertes Gesicht.
Der Racker Simon (Kacey Mottet Klein) ist gut organisiert, er verdient das Geld. Louise, meistens ohne Job, gibt er reichlich ab. Hinter dem routinierten Profitum und seiner ausgebufften kriminellen Energie aber spüren wir die emotionale Auszehrung und Verkümmerung. Um nicht allein zu sein, nähert er sich einer wohlhabenden Engländerin und ihren Kindern an, die sich in einem Chalet eingemietet haben, sucht zu einem Koch in der Skihütte Kontakt (nicht nur als Hehler) und klärt schließlich Louises Freund auf: Nicht seine Schwester sei Louise (Léa Seydoux), sondern seine Mutter, um sie später mit 200 Franken zu bestechen, dass sie ihn nachts zu sich ins Bett nimmt. Ein verlorener Junge, dem kein Kindsein gegeben war. Wie auch die letzte Szene zeigt. Die Saison ist zu Ende, der Skibetrieb packt ein, die Lifte stehen still, die Terrasse liegt leer. Nur Simon bleibt zurück – mutterseelenallein.
»Winterdieb«; Regie: Ursula Meier; Darsteller: Léa Seydoux, Kacey Mottet Klein, Gillian Anderson; Frankreich/Schweiz: 2012; 97 Min.; Start: 8. November 2012.