»Ihr sprecht wenig Deutsch. Ich kann es auch nicht. Wir passen gut zusammen«, sagt Richard McNicol mit britischem Akzent und lacht. Richard, so nennen ihn die Kinder. Sie sitzen im Kreis und klatschen sich mit bulgarischen Rhythmen warm: eins-zwei, eins-zwei-drei, eins-zwei-drei. Zwölf Jungen und Mädchen haben sich an diesem Morgen zur ersten Stunde in der Grundschule Henriettenstraße eingefunden – gerade mal die Hälfte derer, die die erste Klasse besuchen. Eine Ausnahme ist das nicht. Denn regelmäßiger Schulbesuch ist für viele der Familien, die in der Umgebung der Henriettenstraße in Duisburg-Marxloh wohnen, nicht selbstverständlich.
Die Mädchen und Jungen, die gekommen sind, empfangen Richard McNicol wie einen erwachsenen Freund. »Wenn es gelingt, ein gutes Verhältnis zwischen mir und den Kindern aufzubauen, dann ist nahezu alles möglich«, sagt McNicol. Dem Mann, der einen sehr ironischen, sehr warmherzigen Humor hat, ist das offensichtlich gelungen. Wird es dann doch mal etwas lauter, spricht er einfach ein bisschen leiser. Dann werden auch die Kinder ruhig, denn sie wollen hören, was er zu summen und sagen hat.
McNicol besucht regelmäßig die Grundschule Henriettenstraße, um mit den Kindern zu musizieren. Ein normaler Musiklehrer ist er nicht. Er spielte als Querflötist im London Philharmonic Orchestra, danach leitete er jahrelang die Education-Abteilung der Londoner Symphoniker. Heute berät der Pionier moderner Musikvermittlung Orchester auf der ganzen Welt. Er arbeitete mit Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern zusammen und seit zehn Jahren mit dem Klavier-Festival Ruhr. Gemeinsam mit Tobias Bleek hat er ein außergewöhnliches Education-Programm in Marxloh auf den Weg gebracht, das neben Musik- auch Tanzpädagogen ganzjährig in die Schulen des Stadtteils bringt. Die Zusammenarbeit begann zunächst mit einer vierten Klasse der Grundschule Sandstraße. Heute sind rund 350 Kinder an zwei Grundschulen, einer Gesamtschule, einem Gymnasium und einer Förderschule beteiligt. Musik von Strawinsky, Ligeti oder John Cage stand zuletzt im Zentrum der Education-Arbeit des Klavier-Festivals Ruhr. Jetzt widmet man sich den »Ungarischen Bauernliedern« und den »Rumänischen Tänzen« Béla Bartóks.
An der Wand: eine Karte der Türkei
Die Karte an der Wand des Saals, in dem sich McNicol mit den Kindern langsam an die Musik des ungarischen Komponisten herantastet, zeigt den Umriss der Türkei. Daneben hängt ein großes Alphabet. Unter dem Buchstaben A ist eine Birne zu sehen. A wie »Armut«. »Armut«, das heißt auf Türkisch Birne. Doch das Alphabet ist längst überholt. Denn türkische Kinder gehen nur noch wenige auf die Grundschule Henriettenstraße. Im letzten Jahr wurde dort erstmals eine Klasse eingerichtet, in der ausschließlich Kinder saßen, die noch keine Kita-Erfahrungen hatten – und kein Deutsch sprachen. Sie stammen vorwiegend aus Bulgarien und Rumänien, häufig aus Roma-Familien, was türkisch-stämmige Eltern dazu veranlasst hat, ihre Kinder woanders zu beschulen. Viele Eltern seien Analphabeten und sprächen weder Deutsch noch Englisch, sagt Schulleiterin Regina Balthaus-Küper. Wenn es einen Termin mitzuteilen gibt, werden leicht verständliche Bild-Wort-Informationen verteilt. »Aber für kompliziertere Anliegen, die persönlich besprochen werden müssen, braucht es Übersetzer.« Die sind aber nicht in dem Maße verfügbar, wie die Schule sie bräuchte.
Wie unter einem Brennglas zeigt sich in der Grundschule Henriettenstraße die Dynamik, von der mittlerweile der ganze Stadtteil im Duisburger Norden erfasst wird. Für die Medien war Marxloh ohnehin immer das »Ghetto« oder Little-Istanbul. Ein von Arbeitslosigkeit und Armut geprägtes Viertel, das gegen die Abwärtsspirale und das schlechte Image ankämpft. Doch die Spannungen haben sich in den letzten Jahren durch den Zuzug der Neueinwanderer verschärft. Im letzten Jahr warnte die Polizei in einer internen Analyse davor, dass Marxloh zur No-Go-Area werden könnte. Das mag übertrieben sein. Hoffnungslosigkeit und Verwahrlosung sind aber an vielen Ecken in Marxloh sichtbar, ganz besonders augenfällig um die Grundschule Henriettenstraße herum. Da findet sich ein Kiosk, der umlaufend und lückenlos von einem dachhohen Zaun geschützt wird. Manche Ecken machen den Eindruck, als würde der Müll nicht mehr abgeholt werden. Viele, die es sich finanziell leisten können, sind in den letzten Jahren aus Marxloh weggezogen. Was die Situation für diejenigen, die geblieben sind, nicht einfacher macht.
»Die Rahmenbedingungen für Schule funktionieren hier nicht mehr«, sagt Klaus Hagge, der an der Grundschule Sandstraße in Marxloh unterrichtet und die außergewöhnliche Kooperation zwischen dem Musikfestival und den Schulen von Anfang an mitgeprägt hat. »Kinder kommen ohne eine Grunderfahrung von Kindergarten hier an. Alphabetisierung hat selbst in der Muttersprache nicht stattgefunden. Es fehlt an Grundfertigkeiten. Sie können die Klettverschlüsse ihrer Schuhe nicht zumachen. Viele sind nicht in der Lage, mit der Schere einen geraden Schnitt auszuführen.«
Freies Lernen ohne Leistungsdruck
Natürlich kann man sich fragen, ob einem Stadtteil, in dem es so viele Probleme gibt, ausgerechnet mit Béla Bartók zu helfen ist. Aber Richard McNicol geht es bei diesem groß angelegten Marxloh-Projekt sowieso erst in zweiter Linie um Musik. »Mich interessieren die sozialen Möglichkeiten, die durch das Musizieren befördert werden können: gemeinsam etwas zu erarbeiten, anderen zuzuhören, geduldig und tolerant zu sein.« Die musikalische Arbeit in den Marxloher Schulen ist nicht einfach nur Mittel zum Zweck, aber sie verfolgt eben auch Ziele, die ihr äußerlich sind: Anerkennung schaffen, Sprachvermögen fördern, Selbstbewusstsein stärken. Freies Lernen ohne Leistungsdruck, um die Kinder Erfahrungen machen zu lassen, deren Wirkung sich mit dem Bewertungssystem Schule schwerlich messen lässt.
»Für uns bedeutet diese Arbeit eine große pädagogische Unterstützung«, sagt Regina Balthaus-Küper. »Die Kinder haben die Möglichkeit, vorhandene Kompetenzen auf einer nicht-sprachlichen Ebene einzubringen.« Nicht zuletzt die Aufmerksamkeit für die Situation vor Ort sei wichtig. Denn allzu viel Interesse gebe es seitens der Gesellschaft für »ihre« Schüler nun mal nicht. Der Großteil der Jungen und Mädchen, die auf die Grundschulen Henriettenstraße und Sandstraße gehen, sind in ihrer sprachlichen Entwicklung zurück. Musikalisch aber sind sie den Altersgenossen aus anderen Stadtteilen weit voraus. Sie gehen selbstverständlich mit moderner Musik um. Stimmbildung, Rhythmusschulung wird in Klaus Hagges vierter Klasse mittlerweile auf einem Niveau betrieben, das andernorts nicht mal am Gymnasium vorausgesetzt werden kann. »Ich bin stolz darauf, was diese Kinder geleistet haben«, sagt Hagge. »Diese Kinder, in diesem Stadtteil, dem man so wenig zutraut. Die Kinder wissen, dass sie etwas können. Aber sie wissen nicht, in welchen Dimensionen sich das abspielt.«
Erklärtes Ziel des Klavier-Festivals Ruhr war es von Anfang an, die Arbeit in Marxloh langfristig zu gestalten. Darin unterscheidet es sich von den einmaligen sozialtouristischen Brennpunkt-Exkursionen, die sich in den Spielplänen mancher Theater finden. In den Jahren, in denen sich das Festival mittlerweile in Marxloh engagiert, wurden Lehrer ausgebildet und Stundenpläne geändert – unterstützt vom in Duisburg ansässigen Stahl-Metallhändler Klöckner und seit kurzem auch von der Stiftung Mercator. Auf der anderen Seite musste sich auch das Klavier-Festival dem System Schule anpassen.
»Ich glaube, für den Erfolg des Projektes war und ist wichtig, dass wir nicht zu viele vorgefertigte Konzepte haben«, sagt Tobias Bleek, der Leiter der Education-Abteilung des Festivals. »Wir entwickeln alles gemeinsam mit den Lehrern, bis hin zur konkreten Umsetzung. Und oft ergeben sich neue Impulse aus Krisen.« Eine solche Krise gab es etwa, als man die Idee hatte, mittels Musik den Kontakt zwischen der Grundschule Sandstraße und dem Stadtteilgymnasium zu intensivieren, mit dem Ziel, den Kindern den ohnehin schwierigen Übergang zwischen den Schulformen zu erleichtern. Ein Experiment, das eigentlich schon gescheitert war, bis Bleek die Idee für einen Lehreraustausch hatte. Mittlerweile unterrichten Gymnasiallehrer an der Grundschule und Grundschullehrer am Gymnasium, zudem wurde eine fünfte Klasse mit einem musischen Schwerpunkt eingerichtet.
Und was bleibt den anderen Kindern, die es nicht auf das Gymnasium schaffen, vom intensiven Umgang mit Musik? »Ich bin mir sicher, dass all die positiven Eindrücke, die sie hier bekommen, sich in der Seele abspeichern«, sagt Regina Balthaus-Küper von der Grundschule Henriettenstraße. »Und das wird ihnen später, ob bewusst oder unbewusst, dabei helfen, ihr Leben zu gestalten.«
Aufführung am 1. Juli 2016 im Landschaftspark Duisburg.
Das Klavier-Festival Ruhr ist mit »Brücken bauen durch Musik und Tanz« als einziges nordrhein-westfälisches Education-Programm in der Endrunde des »Olymp«-Preises, den die Kulturstiftung der Länder ins Leben gerufen hat, um herausragende kulturelle Bildungsprojekte zu prämieren. Preisverleihung ist am 8. Juli 2016 in Berlin.