Autofahrten, Flugreisen, Ernährung, Kleidung – in allen Bereichen machen wir uns inzwischen Gedanken, wie wir die Umwelt schonen und nachhaltiger leben können. Das Bauwesen bleibt oft außen vor. Dabei ist es verantwortlich für 50 Prozent des Abfall- und 40 Prozent des CO2-Aufkommens. Urban Mining kann Abhilfe schaffen – dabei wird die Stadt zum Rohstofflager. Wie das funktioniert und welche Chancen es birgt? Darüber sprachen wir mit der Architektin und Expertin für zirkuläres Bauen Anja Rosen.
kultur.west: Was ist Urban Mining?
ROSEN: Der Begriff kommt von »urban«, also städtisch, und »mining« von Mine, also im Grunde eine städtische Mine. Das bedeutet, dass wir unsere Städte so gestalten und bewirtschaften, dass wir Materialien wieder leicht entnehmen und hochwertig weiternutzen können.
kultur.west: Wie können denn Architekten, Ingenieure, Bauherren oder Bauunternehmer dazu beitragen?
ROSEN: Alle Beteiligten müssen dazu beitragen. Die Bauherren müssen ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass sie beim Bauen auch Ressourcen verbrauchen. Die Planer müssen sich das Wissen aneignen, wie man kreislaufgerecht oder im sogenannten »Urban Mining Design« Gebäude gestaltet. Beim Betrieb des Gebäudes müssen wir darauf achten, dass wenig ausgetauscht werden muss, dass Materialien lange halten, dass sie werthaltig sind, dass also Baustoffe eingesetzt werden, die robust und am Ende auch recyclingfähig sind oder wiederverwendbar im besten Sinne. Das zieht sich bis in die Bauindustrie, weil die Bauprodukthersteller eine ganz große Verantwortung haben. Eigentlich ist es jetzt schon so, dass sie nur Produkte herstellen dürften, die hochwertig wiederverwertbar sind. So steht es nämlich im Bauproduktengesetz. Das wird aber mitnichten so gemacht. Eigentlich dürften viele Produkte gar nicht mehr zugelassen werden, weil sie diesen Anspruch nicht erfüllen.
kultur.west: Wenn es das Gesetz gibt, warum wird dann noch anderes zugelassen?
ROSEN: Das ist mit vielen Gesetzen so, dass sie einfach nicht verfolgt werden von den Behörden. Und ich würde mir auch wünschen, dass das Deutsche Institut für Bautechnik, das ja Baustoffe zulässt, genauer hinschaut. Und dass tatsächlich nur noch Bauprodukte zugelassen werden, die hochwertig recyclingfähig sind. Man könnte das sogar noch auf die Spitze treiben und sagen, immer wenn neue Produkte erfunden werden, die besser geeignet sind für das kreislauffähige und das klimaschonende Bauen, dann müssen die älteren Produkte vom Markt genommen werden. Aber da gibt es natürlich auch enorme rechtliche Hürden.
kultur.west: Und welche Materialien sollte man beim Bauen verwenden, welche vermeiden?
ROSEN: Wichtig ist, dass man authentische Materialien verwendet, Baustoffe sollten sortenrein sein. Eine Wand kann man in Sichtbauweise ausführen, als Sichtbeton, Sichtmauerwerk oder auch eine Holzwand. So kommt sie authentisch rüber und wird nicht bekleidet mit einem Material, das den Baustoff verunreinigt. Was man ganz vermeiden sollte, sind Komposit-Materialien. Zum Beispiel werden bei Terrassenbelägen Holz-Kunststoff-Verbundwerkstoffe eingesetzt, bei denen zerfaserte Hölzer und Kunststoffe vermixt werden, weil dann diese Terrassendielen angeblich besonders lange halten. Wir sollten wieder dahinkommen, dass wir Materialen verwenden, die das von allein können. Wenn wir ein robustes Holz nehmen – und die gibt es auch in Europa – dann kann man daraus ganz wunderbar einen Terrassenbelag herstellen und nach 20, 30 Jahren kann das dem Naturkreislauf zurückgegeben werden.
kultur.west: Wenn man bereits recycelte Materialien einsetzen möchte – bekommt man die schon?
ROSEN: Es gibt Baustoffbörsen in Deutschland, wo man gebrauchte Bauteile beziehen kann. Es gibt auch ein Startup-Unternehmen in Berlin, das Gebäude vor dem Rückbau inspiziert. Sie gehen durch das Gebäude und schauen, was wiederverwendbar ist. Dann wird das erfasst und zu einem digitalen Bauteilkatalog. Im besten Fall werden die Materialien vor dem Rückbau schon verplant, so dass sie gar nicht mehr zwischengelagert werden müssen, sondern von der Rückbaustelle direkt auf die Neubau- oder Sanierungsbaustelle gelangen. Es gibt Materialien, mit denen man das relativ leicht machen kann. Gebrauchte Ziegel, also Klinker, können sehr gut wiederverwendet werden. Sie haben auch einen gewissen Wert, so dass es sich lohnt, sie sauberzumachen. Es gibt alte Holzbalken, mit denen gehandelt wird. Oder Massivholzdielen, alte Türen bis hin zu Sanitärobjekten, das funktioniert ganz gut. Andere Bauteile müssen bestimmte Anforderungen an den Wärme- oder Brandschutz erfüllen. Heutzutage ein Fenster irgendwo auszubauen, das schon 20, 30 Jahre in einem Bauwerk sitzt, ist mit größeren Herausforderungen verbunden, weil es die heutigen Wärmeschutz-Anforderungen nicht mehr erfüllt. Da ist Kreativität bei Architekten gefragt, wie man mit sowas umgeht – indem man zum Beispiel eine Doppelfassade einbaut, also ein Kastenfenster.
Ich habe einen Wettbewerb in Berlin begleitet, wo ein Bauteilkatalog zur Verfügung stand. Die Architekten haben direkt mit den gebrauchten Bauteilen geplant. Da müssen wir wieder viel mehr hinkommen. Früher war es selbstverständlich, Bauteile wiederzuverwenden. Heute gehen wir verschwenderisch damit um, vieles wird einfach verbrannt oder deponiert und dann wird etwas Neues hergestellt.
kultur.west: Was hindert uns, komplett recyclingfähig zu bauen?
ROSEN: Es ist eine Mischung aus Unwissenheit und dem Schielen auf den Preis. Wenn man sich nicht richtig auskennt, findet man vielleicht nicht heraus, wie man auch heute schon relativ kostengünstig kreislaufgerecht bauen kann. Und manchmal ist das Bauen mit werthaltigen Materialien teurer. Das hält viele Bauherren davon ab, weil sie immer nur auf die Investitionskosten schauen. Wir müssen die Sichtweise ändern: Das Geld steckt dann im Gebäude und es ist entscheidend, ob das ein Gebäude ist, bei dem ich am Ende eine Wertsteigerung habe, nur aufgrund der Materialien. Oder ob ich einen enormen Wertverlust habe, weil ich irgendwann vor horrenden Entsorgungskosten stehe. Wenn Sie zum Beispiel vor 30 Jahren in ein Dach aus Kupfer investiert hätten, wäre das heute das Doppelte wert. Wenn sie es damals aus Betondachsteinen gemacht hätten, hätten Sie beim Rückbau hohe Entsorgungskosten. Und das muss Bauherren viel mehr bewusst gemacht werden.
Eine Studie an der Uni Wuppertal hat ergeben: Wenn man die Rückbaukosten und die Entsorgungskosten zum Baupreis hinzurechnet, sind am Ende die kreislaufgerechten Gebäude, über den gesamten Lebenszyklus gerechnet, die günstigeren, obwohl sie am Anfang etwas höhere Herstellungskosten haben.
kultur.west: Könnte die Politik auch etwas machen, um das zu fördern?
ROSEN: Es gibt inzwischen eine etwas veränderte Fördermittellandschaft. Neubauten werden nur noch gefördert, wenn sie Nachhaltigkeitsaspekte erfüllen, die über die reine Energieeffizienz hinausgehen. Wenn Bauherren eine Förderung haben möchten, müssen sie sich nach Recycling-Materialien umhören.
Eine andere Änderung wird gerade angegangen. Die Ampelkoalition hat sich vorgenommen, in dieser Legislaturperiode einen Gebäuderessourcenpass zu schaffen, zusätzlich zum Energieausweis. In so einem Gebäuderessourcenpass sollte es eine Auflistung aller Materialien, die im Gebäude verbaut sind, geben. Außerdem Aussagen zu ihrer Recycling- und Demontagefähigkeit, auch zur Wiederverwendbarkeit. So ein Pass wird dann vom Architekten erstellt und muss mit jedem Bauantrag abgegeben werden. Wenn diese Ressourcenpässe an zentraler Stelle gespeichert wären, könnten wir daraus mittelfristig ein Materialkataster machen. Nach und nach hätten wir so einen Überblick über unsere urbane Mine und wüssten genau, was wo verbaut ist.
Mit einem solchen Gebäuderessourcenpass inklusive einer Berechnung der Kreislaufpotenziale könnte man aber auch entweder belohnen oder sanktionieren. Wenn Gebäude tatsächlich ein Abfalllager sind, dann müsste der Bauherr ein Pfand zahlen oder es würde im Grundbuch als Last eingetragen. Damit wäre es für Bauherren schwieriger, Investitionen in potenzielle Abfälle zu finanzieren.
kultur.west: Könnte so ein Modell auch die Investitionen ins Bauwesen beeinflussen?
ROSEN: Ja, gerade Investoren, die das Gebäude nach der Fertigstellung verkaufen, sind meist nur am schnellen Geld interessiert. Das würde dann nicht mehr funktionieren, damit hätte man ein Regularium in der Hand, Gebäude wirklich zu Wertstofflagern zu machen.
kultur.west: Wie sieht Ihre Vision für die Zukunft des Bauens aus?
ROSEN: Dass wir tatsächlich Gebäude als Materialdepots sehen. Alles kann wiederverwendet werden oder hochwertig im Kreislauf zirkulieren – also entweder in den natürlichen Kreislauf oder in den technischen Kreislauf zurückgeführt werden. So dass unsere nachfolgenden Generationen dieser Erde keine Rohstoffe mehr entnehmen müssen, sondern dass sie unsere Gebäude als urbane Mine nutzen und daraus immer wieder etwas Neues herstellen können.
Zur Person
Die Architektin Anja Rosen ist Honorarprofessorin für zirkuläres Bauen an der Bergischen Universität Wuppertal. Für ihre Promotion untersuchte sie die Kreislauffähigkeit von Gebäuden und erstellte den »Urban Mining Index« (urban-mining-index.de). Sie setzt sich als aktives Mitglied der Deutschen Gesellschaft für nachhaltiges Bauen für eine Ressourcenwende in der Bauwirtschaft ein und hat den »Atlas Recycling« mit herausgegeben.