Tiefenschichten freilegen und nach dem Verborgenen schürfen – das kann und soll Theater leisten ihrer Überzeugung nach. Barbara Freys Inszenierungen in Basel und Zürich, München, Berlin oder Wien können sich an diesem Anspruch messen lassen. Das mag wohl passen zum Revier mit seinen Schächten und verzweigten Stollengängen. Das Unter-Tage-Fahren ist der neuen Ruhrtriennale-Intendantin auf andere Weise vertraut – als Bewegung, um ins innere Wesen von Stücken und Figuren zu gelangen. Der Mensch, der Künstler zumal – sie spricht vom »Luftgeist« – ist ein zartes, der Zärtlichkeit bedürftiges Wesen.
Zürich, wo sie nicht allein wegen der Bleibedauer von zehn Jahren am Schauspielhaus eine Ära geprägt hat, so meinte Frey, schaue als Stadt distanziert auf einen. Diese Grundhaltung dreht sich in Bochum, Essen, Duisburg um: Umarmung käme dem schon näher. Frey ist eine ideale Besetzung für das NRW-Festival (eine Einordnung ihrer Wahl finden Sie hier), auch wegen ihr zugeschriebener Eigenschaften wie Fairness, Teamfähigkeit, kommunikativer Zugewandtheit, Konzilianz und Dezenz. Eine »Sammlerin von Literatur« hat sie sich genannt, die nicht Scheu noch Abwehr hat vor den großen klassischen Dramentexten, denen sie behutsam auf den Grund geht, ohne sie sakrosankt zu behandeln, »Medea« in der Küche, die Kolcherin als Asylantin, Nina Hoss als antike Zauberin im Deutschen Theater Berlin – das war schon ein herber Zugriff.
Die Baselerin, Jahrgang 1963, hat als Musikerin und Songwriterin begonnen. Sie sei, hieß es damals, »die Frau mit dem härtesten Schlag«, den sie in ihrer Rockband The Action Office rhythmisch austeilte. »Das Schlagzeug kann als Instrument extrem fein sein, an der Grenze zum Hörbaren, und es kann extrem Krach machen.« So begründete Barbara Frey einmal ihren »intuitiven« Griff nach einem Ausdrucksmittel, das mit ihr etwas zu tun habe. Dass das Verschieben des Reglers von Leise zu Laut auch psycho-mental für sie gelten könnte, legt ihr angenehm zurückgenommenes Auftreten nicht unbedingt nahe.
Über die »Insomnia Drawings« der Louise Bourgeois schrieb Barbara Frey, »dass die Bedingung für Trost und Rettung in der immer wiederkehrenden Begegnung mit den Ungeheuern der Nacht« liege. Auf einem Blatt der Bourgeois sind Linien wie auf einem Notenpapier zu sehen mit Notenschlüsseln – aber die Noten bleiben nicht auf Linie, nicht auf der Horizontale, sie streben in die Höhe, gehen schräg hinauf oder stürzen ab. Der kurvige Zick-Zack-Verlauf statt einer Pfeilgeraden – es verwundert nicht, dass das Malheft Frey fasziniert.
Mit 29 führte sie erstmals Regie. Frank Baumbauer, der so viele Talente entdeckte und förderte, hatte sie für sein Haus in Basel als Theatermusikerin engagiert. Ähnlich wie für Christoph Marthaler, ihrem Auch-Vorgänger bei der Ruhrtriennale und Co-Eidgenossen, der Einstieg in die Bühnen-Karriere. Bildende Kunst, Literatur, Musik, Theater also – da fehlt doch noch was? Der Film! Die 14-Jährige, erzählt Frey, sei bei ihren ersten Kinobesuchen geprägt worden von zwei Filmen: Claude Gorettas »Die Spitzenklöpplerin« und Ettore Scolas »Ein besonderer Tag«. In dem einen schauen wir dem still vergehenden Schicksal einer jungen Frau, Beatrice (Isabelle Huppert), zu. In dem anderen sehen wir eine keimende Liebe, die nicht sein kann und darf und doch ist, von einer Frau (Sophia Loren) zu einem homosexuellen Mann (Marcello Mastroianni) im faschistischen Italien. Verkümmerung und Entsagung sind hier wie dort zu entdecken.
Die Hinwendung zu den Beschädigten und zu der Frage: Wer bin ich – und welche andere Möglichkeit bin ich noch? Wer ist das geliebte Gegenüber und Was bin ich wiederum für dieses Gegenüber? Das scheinen Leitgedanken ihrer Theaterarbeit zu sein. Dabei lässt sich für Frey leichter ein Muster beim Interesse für Stoffe ausfindig machen, als eine scharfe Signatur in ihrem Regiestil. Auch das hat vielleicht zu tun mit dem tastenden Spürsinn in der jeweiligen Annäherung.
Frey schaut bei dramatischen Identitäts-Versicherungen und Verunsicherungen besonders auf die Frau. Das berühmte »Ach« der Alkmene am Ende von Kleists »Amphitryon«, nachdem der Gott sich enthüllt hat, der Gatte besiegt daneben steht und die von Eros Betrogene gedemütigt und zugleich über alle Menschen erhoben ist, könnten als undeutbaren Ausruf vielen von Freys Theater-Personen über die Lippen bringen. Angefangen mit ihrem ersten Theaterprojekt (»Ich kann es besonders schön«), das sich mit Sylvia Plath, dem Sterben und Hand-an-sich-Legen beschäftigte, wie auch dem späteren unter dem kühnen und kühlen Titel »Das Geheimnis des Lebens – Mörderinnenseminar«. Ob Phädra, Medea oder Minna von Barnhelm, die bei ihr neben Tellheim unter einem kalten Himmel erstarrt und verharrt, Horváths Marianne und »Unbekannte aus der Seine«, das trunkene Paar F. Scott Fitzgerald und Zelda, die Marquise de Merteuil in Heiner Müllers »Quartett«, die Barbara Sukowa in Salzburg (neben Jeroen Willems als Valmont) in einer radikal verdichteten, uns extrem nahe rückenden Aufführung spielte, die Lotte in Botho Strauß’ »Groß und klein«, die tragikomische »Frau Schmitz« des Lukas Bärfuss oder – in der Oper – Janaceks »Jenufa«, Hofmannsthals & Strauss’ »Elektra« oder die Gräfin in Mozarts »Figaro« – immer klingt im Raum die Frage nach, wohin die Liebe sich neigt: »Porgi amor«.
Es geht der Künstlerin Frey in ihrer Aufmerksamkeit für den und in ihrer Lust auf den Menschen um Erkundungen am lebenden, liebenden, leidenden Körper. Und darum, ihm in den Tonarten der Sprache zu erfassen, in dem, was zwischen den Worten liegt und was nach ihnen kommt, wie in ihrem Züricher Abschied mit James Joyces’ »Die Toten«. Also dem Unsagbaren nachzulauschen, eben jenem »Ach«. Über die »Spitzenklöpplerin« Beatrice heißt es am Ende des Films: »Denn sie war eine von denen, die sich nicht bemerkbar machen, die erforscht werden wollen, bei denen man genau hinschauen muss.«
Mitte August bis Ende September 2021