TEXT: REGINE MÜLLER
Der italienische Komponist Salvatore Sciarrino ist einer der erfolgreichsten Komponisten der Gegenwart und gilt zugleich als Außenseiter. Er lässt sich keiner Schule und aktuellen Strömung innerhalb der Avantgarde zurechnen. Ein Meister der Reduktion und Konzentration auf kleinste Details und Varianten der Klangfarben. Dabei ist seine Musik von formaler Strenge und Klarheit. Seine jüngste Oper »Superflumina« wurde 2011 in Mannheim uraufgeführt. Lange Zeit war in Nordrhein-Westfalen Wuppertal die wichtigste Adresse für Sciarrinos fragiles Musiktheater. Seit 2002 wurden dort vier seiner Opern zumeist exemplarisch (und in Koproduktion mit Schwetzingen) aufgeführt. Nun bietet Aachen die zweite Aufführung von »Superflumina« und ist dabei weniger daran interessiert, das neue Sciarrino-Zentrum der Region zu werden, als an das eigene Bibelprojekt »An den Wassern zu Babylon« von 2009 anzuknüpfen. Denn »Superflumina« spielt direkt auf die lateinischen Anfangsworte des 137. Psalms »Super Flumina Babylonis« an.
Aus Mannheim wurde mit Anna Radziejewska die Protagonistin der Uraufführung übernommen, der Sciarrino die komplexe Partie in die Kehle komponierte. Sie beherrscht die diffizile, an der Sprechdiktion angelehnte und mit winzigen Glucks- und Kicherlauten durchsetzte Stimmtechnik atemberaubend perfekt. Mit größter Natürlichkeit absolviert Radziejewska ihren Einsamkeitsmonolog mit Kicher-Koloraturen, bohrenden Haltetönen und halb geflüsterten Tonfetzen. Zudem muss sie ein Geschehen tragen, das kaum konkrete Handlung bietet. Auch das gelingt ihr mit Bravour. Das Orchester sitzt auf der Bühne, ein breiter Steg ragt über den Graben bis tief ins Parkett, mit Schalensitzen und Papierkörben ist ein Bahnsteig angedeutet. Menschen strömen einher, gehen langsam und mit leerem Blick aneinander vorbei. Dann löst Radziejewska sich aus der Menge und hebt an mit ihrem nach innen gewandten Sprechgesang. Viel mehr passiert während der knapp 100 Minuten nicht; Sciarrino geht es um die Introspektion der Hauptfigur, von der man nicht weiß, ob sie heimatlos, verwirrt von der transzendentalen Obdachlosigkeit des 21. Jahrhunderts getroffen ist.
Ludger Engels, der sich die Regie mit dem Ausstatter Ric Schachtebeck teilt, konzentriert sich auf die feinen Strukturen der Musik und inszeniert schockgefrorene Bilder; Schachtebeck, Tänzer, Performer und Choreograf, ordnet ein Heer von Statisten (Sinfonischer Chor Aachen) und Chor in zeitlupenartig gedehnten Bewegungen zu beiläufigen Tableaus. Eine weitere szenische Rolle übernimmt das sichtbare Orchester, dem man unter Péter Halász’ umsichtiger Leitung beim Erzeugen von Sciarrinos filigranen Klängen zuschauen kann. Ein dichter Abend, der sich dem Sozialkitsch verweigert und dadurch umso stärker nachwirkt.