TEXT: KATJA BEHRENS
In den sezessionistischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts und der Zeit um die Jahrhundertwende waren Modelle für künstlerische Gemeinschaften entstanden, die vorzeichneten, was sich bald auch im Rheinland, in Dresden, München, Wien und Berlin entwickeln sollte. In ganz Europa schossen Künstlervereinigungen aus dem Boden, versuchten die Künstler in der gemeinsamen Arbeit eine Utopie lebendig werden zu lassen, die im Aufbruchspathos jener Jahre etwas überaus Verlockendes besaß. Der Expressionismus dieser frühen Jahre verfolgte eine künstlerische, genauso aber eine politisch-weltanschauliche Sendung mit lebensreformerischen und esoterischen Einsprengseln. Auch der Verleger und Galerist Herwarth Walden (1878–1941) ist von missionarischem Eifer getrieben, schwebt doch auch ihm eine »Erneuerung der Kunst« vor, eine Art Gesamtkunstwerk light.
Als am 3. März 1910 in Berlin die erste Ausgabe seiner neuen Zeitschrift Der Sturm. Wochenschrift für Kultur und Kunst erscheint, ist allerdings noch keineswegs klar, dass eine »Revolution« der modernen Kunst hier ihren Ausgang nimmt. Sind es anfangs besonders Dichter und Schriftsteller, die die Zeitschrift als Forum und Sprachrohr zu nutzen wissen, kommen bald auch Musiker und Komponisten in Kontakt mit der
Publikation. Rund um den Sturm, der in seiner kritischen Offenheit an die seit 1899 vom Schriftsteller Karl Kraus in Wien herausgegebene Fackel anknüpft, bildet sich der »Sturmkreis«. Expressionistische Dramen, Kunstmappen, Künstlermonografien und kunsttheoretische Schriften erscheinen im »Sturmverlag«. Neben der »Sturmgalerie« (1912) gibt es irgendwann auch eine »Sturmbühne« (1918) und »Sturm-Abende«, an denen futuristische Lyrik vorgetragen wird.
Zwei Jahre nach Gründung seiner Zeitschrift eröffnet Herwarth Walden am 12. März 1912 in Berlin die Galerie »Der Sturm«. Damit beginnt der Siegeszug jener künstlerischen Bestrebungen, die sich vor allen Dingen von den alten Regeln distanzieren und die Kunst neu erfinden wollen, auch wenn sie von der damaligen Kritik zumeist verlacht werden. Die charismatische Gestalt des Berliner »Sturm«-Galeristen spielt eine zentrale Rolle bei der Entdeckung und Förderung der vielen jungen Talente, die bald die bekanntesten und meist auch erfolgreichsten Künstler ihrer Generation sein werden.
Das jedenfalls ist das Bild des »Sturm«, das die Kunstgeschichtsschreibung kolportiert.
Wie es allerdings gelingen konnte, auch in den für alle anderen so schwierigen Kriegsjahren ab 1914 Ausstellungen zu organisieren, Künstler zu protegieren und ihre Bilder zu verkaufen, ist eine der vielen Fragen, die jetzt endlich untersucht werden – mit dem Ergebnis, dass die »Sturm«-Ausstellung in Wuppertal zweiteilig geworden ist, eine Ausstellung mit zwei Seelen. Und zwei Katalogen, wenn man so will: Der erste Band zeigt prächtige Bilder. Der zweite, noch dickere, Textband rekonstruiert die Zusammenhänge. Womit neben die Feier der grandiosen Malerei jener »Sturm«-Zeit von 1910 bis 1932, auf der wunderbare Entdeckungen zu machen sind, eine historische Aufarbeitung der damaligen Kunstmarktgeschichte tritt, eine, die auch den skeptischen Blick wagt. Und das, wie sich herausstellt, durchaus zu Recht, hegten doch damals selbst manche Künstler bald Zweifel an Kennerschaft und Idealen ihres Galeristen.
Der ausgebildete Pianist, Komponist, Dichter und Nietzsche-Verehrer Herwarth Walden, als Georg Lewin in einer Berliner Großbürgerfamilie geboren, hatte in den zehn Jahren vor Gründung seiner Zeitschrift schon die unterschiedlichsten Tätigkeiten ausgeübt, hatte diverse Literatur- und Theaterzeitschriften herausgegeben und begonnen, ein Netzwerk aus Gleichgesinnten aufzubauen. Mit Hilfe seiner ersten Frau, der Lyrikerin Else Lasker-Schüler, kann er dieses Geflecht nun beträchtlich erweitern. Sie, die geborene Elberfelderin, ist es schließlich auch, die ihn im Kunstverein Barmen mit der Kunst und den Künstlern des Blauen Reiter bekannt macht, sie sollen in Waldens ersten Ausstellung 1912 gezeigt werden. »Eine Zeitlang ist sie die tragende Säule des ›Sturm‹.« Sagt Andrea von Hülsen-Esch, Professorin am Kunsthistorischen Institut der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Koordinatorin des wissenschaftlichen Teils der Ausstellung.
1912, nach der Scheidung von Lasker-Schüler, heiratet Walden die schwedische Malerin Nell Roslund, die von nun an eine zentrale Rolle für die Galerie spielt. Und obgleich er alles andere als ein guter Geschäftsmann ist, gelingt es Walden mit vielerlei Aktivitäten, die Galerie als Teil des »Sturm«-Projekts zu einem Hotspot der Berliner Avantgarde werden zu lassen. Er stellt in schneller Folge Künstler des französischen Fauvismus aus, des Orphismus, des deutschen Expressionismus, des italienischen Futurismus sowie französischen und tschechischen Kubismus. Oskar Kokoschka, der Blaue Reiter, Expressionisten, Robert Delaunay und zig andere werden in der ersten Schau in seiner Galerie präsentiert. Die zweite Ausstellung gibt den italienischen Futuristen mit Filippo Tommaso Marinetti als Wortführer eine Plattform, auf der sie ihre skandalträchtigen Aktionen realisieren und ihre technik- und gewaltekstatischen Ideen verkünden können.
Spätestens 1913 dann, mit dem Ersten Deutschen Herbstsalon, den Walden in Anlehnung an den seit 1903 stattfindenden Pariser Salon d’Automne und als Gegenveranstaltung zur Sonderbundausstellung in Köln gegründet hatte, wird »Der Sturm« zu einem wichtigen Dreh- und Angelpunkt der Kunstszene, obschon das eigentliches Zentrum der europäischen Avantgarde auch damals schon im Rheinland lag.
So findet im Jubiläumsjahr nicht in Berlin, sondern in Wuppertal die zentrale Auseinandersetzung mit dem »Sturm« statt. Kuratorin Antje Birthälmer und Museumsdirektor Gerhard Finckh haben so erfolgreich (aus Berlin, New York, Paris, Madrid) zusammengetragen, dass unglaubliche 90 Prozent der gut 200 jetzt im Von der Heydt-Museum versammelten Kunstwerke tatsächlich einmal in einer der vielen »Sturm«-Ausstellungen gehangen haben.
Die Ausstellung zeigt wunderbare Bilder. Und selbstverständlich muss die Kunstgeschichtsschreibung zum »Sturm« ab jetzt auch den tschechischen, ungarischen, bulgarischen, rumänischen Expressionismus und Konstruktivismus einbeziehen, die Beziehungen zu den Künstlerinnen der Niederlande, Belgiens, Skandinaviens, den Einfluss der Sturm-Kunst in den USA.
Die Namen Robert Delaunay, Franz Marc, August Macke klingen wohlvertraut, Oskar Kokoschka, Marc Chagall, Wassily Kandinsky ebenso. Sie alle haben eine zentrale Rolle gespielt, kein Zweifel. Und auch Natalija Gontscharowa, Gabriele Münter und Marianne von Werefkin kennt man, abeer von nun an sollten auch Marthe Donas, Maria Uhden und Jacoba van Heemskerck nicht wieder vergessen werden, jene Künstlerinnen, denen schon Herwarth Walden in seiner Galerie besondere Beachtung schenkte. Genau wie neben vielen anderen ihre männlichen Kollegen Albert Bloch, Béla Kádar, Lajos Kassak und László Péri jetzt dazu gehören.
War die Galerie für eine ganze Reihe einzelner Künstler fraglos ein Karrieremodell, blieb sie für viele andere lediglich eine Episode. Sie errangen keinen Weltruhm und verschwanden mit den Jahren in der Versenkung oder zumindest in der zweiten und dritten Reihe. Für die Kunstgeschichte hingegen blieb Herwarth Waldens Galerie eine Erfolgsstory.
Jetzt aber, 100 Jahre später, darf auch vom »unlauteren Geschäftsgebaren« Waldens gesprochen werden, von den Problemen der Künstler mit ihrem Galeristen und seinen Verstrickungen in die Propagandapolitik des Kaiserreiches während des Krieges. »Seine Arbeit für den Nachrichtendienst soll, in der offiziellen Lesart, nur darin bestanden haben, Zeitungsartikel zu übersetzen, tatsächlich aber hat er viel Geld bekommen. Das wiederum hat dann aber auch die Fortsetzung seiner Arbeit ermöglicht.« Andrea von Hülsen-Esch weiß, dass die »Sturm«-Geschichte von nun an etwas anders geschrieben werden muss.
13. März bis 10. Juni 2012. Katalog I + II, je Band 25 €, zusammen 40 €. Tel.: 0202/563-6231. www.sturm-ausstellung.de
Umfangreiches Begleitprogramm, u. a. Wiederaufführung des Bühnenstücks »Mann« von Lothar Schreyer www.wuppertaler-buehnen.de