TEXT: STEFANIE STADEL
Es ist ein Fenster – aber ohne Aussicht. Marcel Duchamp hatte den Holzrahmen 1920 in verkleinertem Maßstab nachbauen und verglasen lassen. Die dunklen Lederstücke spannte er dann wohl selbst vor die Scheiben. Und empfahl, sie, wie Schuhe, täglich zu polieren. Zwar kann der Betrachter nicht hindurchsehen, doch zumindest sich selbst wird er so schemenhaft wiedererkennen in der glänzend gehaltenen Oberfläche. Der Künstler nannte das zweckentfremdete Ding französischer Bauart nicht einfach »French Window«, sondern strich die zwei N. »Fresh Widow« titelt nun auch die Ausstellung in der Düsseldorfer Kunstsammlung K20: Sie geht dem Fenster-Motiv in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts nach und findet in Duchamps kuriosem Objekt einen ausgezeichneten Dreh- und Angelpunkt.
Man ahnt schon – das Thema ist schwer zu fassen. Fast grenzenlos. Denn extrem viele Künstler haben sich während der letzten rund 100 Jahre des Fensters angenommen. Oft gleich in größeren Werkgruppen und nicht selten mit nachhaltiger Wirkung auf ihr weiteres Schaffen. Immer wieder entfachten sich am Motiv des Fensters grundlegende Reflexionen über das Medium der Malerei. Und das hat Geschichte: Mitte des 15. Jahrhunderts schon kommt das Fenster als Metapher für ein gemaltes Bild ins Gespräch.
Ausdrücklich bei dem Renaissance-Gelehrten Leon Battista Alberti, wenn er in seiner Schrift »De Pictura« Tipps für Maler gibt und dabei erklärt, wie er die Arbeit am Gemälde beginnt: »Als Erstes zeichne ich auf der zu bemalenden Fläche ein rechtwinkliges Viereck von beliebiger Größe, von diesem nehme ich an, es sei ein offen stehendes Fenster, durch das ich betrachte, was hier gemalt werden soll.«
Schaut man sich mit diesen Erläuterungen im Ohr unter den Werken der Düsseldorfer Ausstellung um, so könnte man den Eindruck bekommen, dass sie vor allem das eine Ziel verfolgen: dem alten Vergleich kontra zu bieten, das Bild nicht länger als zentralperspektivisch gesehenen Ausschnitt der Wirklichkeit auszugeben. Es fängt an im April 1912 mit Robert Delaunays Fensterbildern. Bis Januar 1913 malt er an die 20 davon – für ihn »wirkliche Erfindungen«. Denn es geht ihm hier erstmals »nur um die Farbe als Farbe«. Man schaut nicht mehr in die Tiefe, erkennt kaum mehr Gegenstände. Alles löst sich zunehmend auf in einem dynamischen Geflecht kontrastierender oder harmonierender Farbfelder. Ohne Davor oder Dahinter.
Auch Henri Matisse führte das Fenster-Motiv weg vom Gegenstand. Auch er drang beim Blick hinaus nicht mehr in den Raum vor, sondern verharrte auf der Fläche, die auch einmal einfach nur undurchdringlich dunkel sein kann. So im Gemälde »Porte-fenêtre à Collioure« von 1914, wo der Maler die Aussicht durchs Fenster tiefschwarz verstellt. Eine erstaunlich radikale Lösung, die allerdings wohl kaum so geplant war. Wahrscheinlich wollte Matisse durch die schwarze Übermalung schlicht seinen Bildentwurf verwerfen. Eher zufällig steht hier also die plane Farbfläche vor dem Fenster. Doch auch in den anderen Beispielen macht Matisse den Bildraum dicht, lässt durch die fehlende Perspektive Innen und Außen immer mehr in eins fallen. Der Raum vom Horizont bis ins Innere des Ateliers bilde eine Einheit, erklärte er denn auch. »Die Mauer mit dem Fenster schafft nicht zwei verschiedene Welten.«
Mit Duchamp und seinem verklebten Fensterobjekt scheint der Abschied von der Aussicht schließlich besiegelt. Das seit der Renaissance gültige Bildkonzept endgültig verabschiedet. An die Stelle der alten malerischen Illusion tritt das reale Ding, und an die Stelle des Blicks hinaus das schattenhafte Spiegelbild. Wenn man zuvor noch eine Art Entwicklung erkennen wollte, so wäre sie damit eigentlich abgeschlossen. Denn weiter kann man kaum gehen.
So macht auch das, was folgt in der Düsseldorfer Ausstellung, kein echtes Fortschreiten mehr anschaulich, erzählt keine Geschichte. Vielmehr erscheint es als Nebeneinander unterschiedlicher Möglichkeiten. Dabei hat Kuratorin Maria Müller-Schareck sich dazu entschieden, nicht die große Masse aufzufahren, sondern die Auswahl auf wenige Künstler zu beschränken. Insgesamt sind es 17, die sie herausgreift – von Delaunay über Josef Albers und René Magritte, Eva Hesse, Gerhard Richter und Isa Genzken bis hin zu Jeff Wall und Olafur Eliasson.
Die Auswahl konzentriert sich ganz auf Künstler, für die das Fenster von entscheidender Bedeutung war. Allen voran Ellsworth Kelly. Denn eigentlich war er es – und nicht Duchamp –, mit dem ihr Ausstellungs-Projekt seinen Anfang nahm.
Im Kopf hatte die Kuratorin jene Fensterbilder, die Kelly innerhalb weniger Monate in Paris schuf und die zu einer wesentlichen Wende in seinem Werk führten. Er selbst beschrieb, wie es dazu kam, 1949 im Musée d’Art Moderne: »Ich stellte fest, dass mich die großen Fenster zwischen den Gemälden mehr interessierten als die Kunst, die dort ausgestellt war.« Er habe eins der Fenster gezeichnet und wenig später sein erstes Objekt geschaffen, »Window, Museum of Modern Art, Paris«. »Von diesem Zeitpunkt an«, sagt Kelly, »gab es die Malerei, wie ich sie bis dahin gekannt hatte, für mich nicht mehr.«
Müller-Schareck schien dieses Beispiel so bezeichnend, dass sie sich gleich zu Beginn der Ausstellungs-Vorbereitungen an Kelly wandte. »Hätten wir diese Werke nicht bekommen, hätte ich auch die Ausstellung nicht machen wollen.« Doch Kelly schlug spontan ein, gab seine oft noch im eigenen Besitz befindlichen Fensterbilder nach Düsseldorf. Darunter auch jenes »Window« aus dem Musée d’Art Moderne, konstruiert im November 1949 aus Holz und Leinwand. Leisten umfassen zwei Tafeln, die mit weißer und grauer Farbe, aber ohne jede Spur einer Handschrift bemalt sind. An die Stelle der Repräsentation ist das Objekt getreten.
Verfolgt man den Weg weiter in Richtung Gegenwart, so zeichnet sich vor allem in den 1960er und 1970er Jahren ein gesteigertes Interesse am Sujet ab. Christo etwa verhängte »Show Windows« und »Store Fronts« mit großen Tüchern oder verklebte sie mit Packpapier. Auch das Fenster der Düsseldorfer Galerie Schmela wurde in diesem Zuge verschleiert. Eva Hesse zeichnete Rahmen und Raster auf Notizzettel. Robert Motherwell stieß rein zufällig auf das klassische Thema, als er im Atelier Leinwände unterschiedlicher Größe aneinanderlehnte, und variierte es in seiner berühmten Serie namens »Open«. Auch Gerhard Richter wandte sich damals in langgestreckten Gemälden dem Fenster zu. Es scheint, als würde man hindurchschauen auf eine direkt dahinter liegende Wand, wo sich die Gitterstruktur des Rahmens in Licht und Schatten abzeichnet.
Gar nicht so fern liegt da die rund 30 Jahre jüngere Arbeit von Olafur Eliasson. Auch hier geht es um Licht und Schatten – diesmal allerdings nicht in Farbe auf Leinwand. Eliasson reicht ein Stativ mit Scheinwerfer und die passende Schablone mit Gitterstruktur, schon ist das verwirrende Werk perfekt. »Das Ende des Fensters«, so kommentiert der Ausstellungs-Katalog. Das Fenster in der Kunstgeschichte selbst dürfte damit allerdings kaum zugeschlagen sein.
Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, K20, Düsseldorf; 31. März bis 12. August 2012; Tel. 0211/83 81 130. www.kunstsammlung.de