»Achtung! Pockenverdacht. DURCHFAHREN.« Dieses Schild hing im kalten Januar 1962 am Ortseingang von Lammersdorf in der Nähe von Monschau. Erstaunlich wenig Ausrufezeichen für so eine Warnung, wahrscheinlich verließ man sich darauf, dass die Versalbuchstaben genug Eindruck machten. Obwohl allein der Verdacht von Pocken schon einen gewissen Alarm auslösen müsste. »Variola« klingt da schon besser und wie ein Instrument für klassische Konzerte, ist aber der medizinische Fachbegriff für die schwarzen Pocken.
Diese haben in ihrer Heftigkeit irgendwann die Pest, die bis dahin gefürchtetste Seuche der Menschheit, überholt, waren hochansteckend und rafften ganze Landstriche dahin. Wer nicht starb, blieb durch die Blattern entstellt, deshalb war in der Barockzeit auch das Gesichtspuder so beliebt, um die Narben zu verdecken. Auch Goethe berichtete in »Dichtung und Wahrheit« darüber: »Das Übel betraf nun auch unser Haus und überfiel mich mit ganz besonderer Heftigkeit. Der ganze Körper war mit Blattern übersäet, das Gesicht zugedeckt, und ich lag mehrere Tage blind und in großem Leiden.«
Der Pockenausbruch in der Eifel hat tatsächlich stattgefunden. Ein Monteur schleppte sie aus Indien ein und infizierte seine Tochter. Insgesamt erkrankten 33 Menschen im Landkreis Monschau, der von der WHO zum »Internationalen Infektionsgebiet« erklärt wurde, eine Person starb. 700 Bürger*innen mussten Wochen in Quarantäne verbringen, erst Ende April gaben die Behörden Entwarnung.
Ein Arzt im dichten Stahlkocheranzug
Steffen Kopetzky nutzt diesen historischen Ausnahmezustand als Handlungsmotiv seines neuen Romans »Monschau«. Der junge griechische Arzt Nikolaos Spyridakis wird in den Ort geschickt, ausgestattet mit einem dichten Stahlkocheranzug, um die Infizierten zu betreuen und die Krise zu organisieren. Die zweite Hauptperson ist Vera Rither, die Alleinerbin der örtlichen Rither-Werke, die gerade aus Paris zurückkehrt, Simone Beauvoir liest und nicht nur Cool Jazz, sondern später auch Nikolaos liebt.
Kopetzkys letzter Roman »Propaganda« spielte ebenfalls in der Eifel, im Hürtgenwald, wo 1944 die letzte große Abwehrschlacht gegen die alliierten Truppen stattfand. In »Monschau« tauchen einige der Figuren, wie der damalige Militärarzt Stüttgen, erneut auf – die Vergangenheit wirft noch ihre Schatten in das junge Wirtschaftswunderland.
Das Genre der Unterhaltungsliteratur wird gern belächelt, funktioniert bei Steffen Kopetzky aber bestens. Er mischt geschickt Fakten mit Fiction, streift immer wieder den Zeitgeist jener Jahre – Beuys, Opel Kadett, »Das Halstuch« – und ist pandemisch hochaktuell. Man kennt sie, diese Aussagen der Politiker*innen, Funktionär*innen und Krisenstäbe. Oft überfordert und beschwichtigend, den Ernst der Lage verkennend. Zum Glück gab es aber schon damals die vernünftigen Lauterbachs: »Die Natur kennt den Begriff der Zumutung nicht. Die nimmt keine Rücksicht auf Weiberfastnacht oder Rosenmontag. Oder auf sonst irgendetwas.«
Steffen Kopetzky: »Monschau«
Rowohlt Berlin, 2021
352 Seiten, 22 Euro
Online-Lesungen mit Steffen Kopetzky:
4. Mai 2021, um 19:30 Uhr aus dem Literaturhaus Köln
6. Mai 2021, um 18 Uhr aus dem Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf
1. Juni 2021, um 19:30 Uhr aus der Buchhandlung Funk in Bergisch Gladbach
23. Juni 2021, um 19:30 Uhr aus dem Haus der Bildung, Bonn (Literaturhaus Bonn)