Dieses Buch sollte nicht gelesen werden als Anweisung zum Glücklich- oder Unglück-Sein. Ganz gewiss ist es kein Ratgeber. Die Behauptung, in der Zeit von 1929 bis 1939 spiegele sich Gegenwart mit ihrer Unruhe und Ungewissheit, ihren auseinanderdriftenden Extremen, ist Unfug. Das spricht nicht gegen diese »Chronik eines Gefühls« – im Gegenteil. Der Autor, Lauschende, Lesende und Sammelnde legt das Echolot an, nimmt eine Anamnese vor, ohne dass die Krankheit, die das Leben selbst ist, zu kurieren wäre oder hätte geheilt werden können, nicht »Davor«, nicht »Danach«, wie zwei der drei Kapitel lauten und das der Zäsur dazwischen: »1933« mit dem 30. Januar. Klaus Mann verspürt den »Schreck«, Joseph Goebbels erscheint er »wie im Märchen« – Hitler ist Reichskanzler. Viele schaffen es noch so eben ins Exil, darunter Friedrich Hollaender, die Manns, Familie Kerr, andere werden verhaftet, ihrer Existenz beraubt, eingesperrt, umgebracht.
Liebe ist ein Ausnahmezustand, und wenn die Epoche zwischen dem Schwarzen-Börsen-Freitag 1929 und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs zudem einen solchen darstellt, wird das auf Liebende, ob sie bewusst in der Geschichte stehen oder durch sie hindurchtreiben, Einfluss nehmen, wobei Illies den Beginn von Tolstois »Anna Karenina« zitierend umwandelt: »Alle glücklichen Paare ähneln einander. Aber alle unglücklichen sind auf ganz eigene Weise unglücklich.« Vielleicht nur ein Bonmot. Denn gerade die Physiognomie des Glücks kennt so viele Ausdrücke. Das Buch ist voll davon, aufgefunden bei Künstlern als den Sonderfällen des Lebens, in denen sich Gefühl verdichtet.
Der Alltag aus Angst, Not, Nicht-Wissen-Wie und -Wohin aber legt sich als Grundmelodie unter die Revue der Herzen. Illies begleitet den Reigen mit seinen ironischen Glanzlichtern, doch deutlich mit mehr Wehmut. »What is this thing called love«, Cole Porter schreibt den Song 1929. Die zahllosen Erfahrungen, die gemacht und fixiert wurden, in Büchern, Bildern, Betten und auf Bühnen, greift Illies auf, montiert, konzentriert und leuchtet aus. Gern eine elegante feuilletonistische Formulierung wählend, um wie mit einer Schleife die knappen Skizzen zu dekorieren, aneinander zu binden oder ihnen Halt zu geben, wobei schon mal etwas falsch geknotet sein kann und die Überpointierung ihm entgleitet, wenn es heißt: »Der Mutterschoß ist eigentlich eine Einbahnstraße.« Meist aber geht es anders und so zu wie in der atmosphärisch bezaubernden Miniatur über das Verleger- und Liebespaar Kurt Wolff und Helene Mosel.
Aus Musen werden Meisterinnen
Radikale, atemlose, rapide, sich die Moderne erfindende, durch sie herausgeforderte, mit ihr Schritt haltende Gegenwart und Vergegenwärtigung – das macht Illies als gemeinsames Symptom aus. Das Vergangene abgetan, der Zukunft besser nicht zugewandt. Jugend als Programm, das Lustprinzip als Schicksal und Schimäre, Neue Sachlichkeit als emotionale Kühlstufe, wie sie Illies in den Gemälden der Tamara de Lempicka als »Pop Art Déco« findet, Sexualität als Experiment, was auf bescheidenster Stufe die Ehe zu Dritt meint, die Frau, die auf den Mann pfeift oder nach ihm. Aus Musen und Modellen werden Meisterinnen wie die Fotografin Lee Miller. Immer: Versuche, die Einsamkeit zu teilen oder zu durchbrechen.
Für das Doppel- und Dreifachleben braucht es mehr als zwei Herzkammern. Den Ton geben an und vor: Frauen-Ausbeuter wie Brecht und Benn, Kästner, Tucholsky und Picasso; erotische Sternschnuppen wie Erika und Klaus Mann samt ihrer schillernden Partner und Freundinnen; Alkoholiker wie Scott Fitzgerad und Morphinistinnen wie Mopsa Sternheim; Freibeuterinnen wie Marlene Dietrich und Ruth Landshoff; Lustwandelnde wie Josephine Baker und Christopher Isherwood, Schmerzensmänner wie Alfred Döblin; Sonderlinge wie Ludwig Wittgenstein, unmögliche Paare wie Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre und Gala und Dalí, die für den Surrealisten-Maler ihren Paul Éluard verlässt. Seitenblicke erfassen den Theologen Dietrich Bonhoeffer oder den Tennis-Champion Gottfried von Cramm, Irrläufer im erotischen Dazwischen auch sie.
Charlotte Wolff, so lesen wir bei Illies, schreibt über die Enttäuschung, aus der Liebe ausgeschlossen zu sein, dass sie »eine Verletzbarkeit, die sich auswirkt wie die Nacht auf bestimmte Pflanzen«, schaffe: »Sie schließen ihre Blüten«. Illies öffnet auf 400 Seiten das Treibhaus der Nachtschattengewächse.
Florian Illies, »Liebe in Zeiten des Hasses«, S. Fischer, 432 Seiten, 24 Euro