Der Start sollte anders werden. So unkonventionell, wie es nur ging. So bemühten sich am 1. Dezember 1993 gleich drei Moderatoren vor dem Teleprompter, möglichst ungestüm zu wirken. Nilz Bokelberg saß mit Pudelmütze und Schlafzimmerblick in einer Hängematte, Mola Adabesi rekelte sich im Hintergrund auf Kissen herum und Heike Makatsch sagte aufgekratzt in die Kamera: »Jetzt kommen wir zur Sache! Wir haben lange überlegt, welchen Clip wir als erstes präsentieren wollen. Ganz klar, dass wir uns für eine Band entschieden haben, die so ist wie wir: Zu geil für diese Welt.« So flimmerte der gleichnamige Track der Fantastischen Vier aus den angemieteten VOX-Studios in Köln-Ossendorf direkt in die Kinderzimmer der Republik.
Der Musiksender sollte von Anfang an eine Art Gegenpol zu MTV Europe sein, das bis dahin vornehmlich Videos englischsprachiger Künstler zeigte. 40 Prozent mehr deutsche Musik wollte VIVA bringen und so liefen Techno-Sternchen wie Marusha, Boy-Groups wie Tokio Hotel oder Comedy-Schlager von Die Doofen über die Mattscheibe. Geschäftlich angeschoben wurde der Sender von Dieter Gorny. Ein Mann, der vorgefertigte Marketingsätze wie »VIVA verkauft kein Lebensgefühl, sondern reflektiert es« zu jeder Tag- und Nachtzeit abrufen konnte. Vor der Zeit des Musikfernsehens war Gorny Leiter des Rockbüros NRW gewesen und langjähriger Geschäftsführer der Musikmesse Popkomm. Als VIVA zum Börsengang ausholte, wurde er zum Vorstandsvorsitzenden gewählt. Und sah mit seinen langen Haaren und dem akzentuiertem Kinnbart so aus wie ein agiler Vorzeige-Unternehmer. Heute wirkt der ehemalige Berufsjugendliche alt und grau. Der Mann mit dem SPD-Parteibuch in der Tasche war unter anderem einer der vier künstlerischen Direktoren der Ruhr 2010. Gorny führte den Sender, bis ihn MTV im Januar 2005 übernahm.
Stefan Raab und seine Ukulele
Zwischenzeitig verzeichnete der Sender richtig viel Geld: 2002 verkündete er bei einem Umsatz von 109 Millionen Euro einen Gewinn von 15 Millionen Euro. Diese Erfolgsgeschichte verdankte das Unternehmen allerdings nicht seinen Musikprogrammen, sondern seiner breiten Aufstellung im TV-Geschäft. Plötzlich produzierte Brainpool (die Firma hinter VIVA bis zum Jahr 2004) auch Comedy-Formate wie »Ladykracher« für SAT1. Der Show-Gigant in der Sendegruppe war aber der Sohn aus einer Kölner Metzgerfamilie: Stefan Raab. VIVA ließ ihn Ukulele spielen. TV-Altmeister wie Chris Howland setzten sich in sein grellbuntes Studio zum Nonsens-Talk.
Raab war ein Multitalent. Was er anfasste, gelang und wurde zu Gold: Er moderierte, komponierte und produzierte in schneller Schlagzahl. Nebenbei etablierte er die Guerilla-Comedy: Der Entertainer ging irgendwo hin, hielt die Kamera drauf, war witzig. Er überfiel Rudi Carrell in seiner Garderobe, störte die Band Echt beim Konzert oder trank mit der Heavy-Metal-Band Manowar ein Bier auf der Bühne – natürlich stilecht in Gallier-Manier aus einem 15-Liter-Fass. Doch Raab war nicht das einzige Talent, das bei VIVA an den Start ging. Auch Heike Makatsch startete mit dem Format »Interaktiv« ihre Karriere. Sie wurde zum Aushängeschild der Girlie-Bewegung. Doch diese Etikettierung war ihr irgendwann zu eng gefasst. Makatsch wurde Schauspielerin, drehte mit Detlev Buck Filme wie »Männerpension« und hatte bald einen passenden Schauspielerfreund in London: Daniel Craig, den späteren James Bond. Bis heute hat sie in über 50 Film- und TV-Produktionen mitgespielt.
Legendär: »Fast Forward« mit Charlotte Roche
Ein noch schrillerer Typ war Charlotte Roche. Sie spielte das Indie-Girl mit frecher Schnauze in der Riege der knallbunten Selbstdarsteller. Mit ihrer Sendung »Fast Forward« brachte sie unkonventionelle Wortbeiträge auf den Bildschirm und speiste dazu die passende Musik aus den Bereichen New Wave, Punk und Indie-Rock ein. 1995 etablierte der Sender den Rockableger »VIVA Zwei« in der TV-Familie – das war formal wie inhaltlich das viel coolere Format. Legendär wurden Roches präzis-konfusen Anmoderationen der Marke »Hallo-Schallo« und ihre originellen Interviews mit Mega-Stars wie Robbie Williams, Tom Jones oder Prince. Später wurde sie mit dem Grimme-Preis und dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet. Ihr erster Roman »Feuchtgebiete« löste 2008 mit seiner radikalen Offenheit eine gesellschaftliche Debatte über weibliche »Untenrum«-Themen aus und avancierte mit mehr als 1,3 Millionen verkauften Exemplaren zu einem der erfolgreichsten Bücher der letzten 15 Jahre.
Aber keine Jugendkultur ist für die Ewigkeit konzipiert und so wird VIVA Ende 2018 eingestellt. Zum Abschied stehen für den Dezember noch einige Specials auf dem Programm. Aber eine extra produzierte Live-Show oder generell moderierte Formate sind als großes Finale nicht geplant. Der Abstieg kam auf leisen Sohlen: Die legendären Top 100, die jahrelang freitags ausgestrahlt wurden, fanden nur noch bei viva.tv im Internet einen Platz. Es folgte der Stellenabbau. Angeblich sei der Sender auch in späteren Jahren noch profitabel gewesen, der neue Besitzer Viacom International Media Networks (VIMN) wollte sich aber auf seine drei Kernmarken MTV, Comedy Central und Nickelodeon konzentrieren – dort, so hieß es, lägen die größeren Wachstumschancen. »Wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht, VIVA zu schließen, aber müssen auch anerkennen, dass MTV die stärkere Marke im Musikmarkt ist«, so Dr. Mark Specht auf Anfrage zum Ende des Senders.
Der General Manager von Viacom IMN sagt, die Sehgewohnheiten hätten sich inzwischen deutlich verändert – weg vom Musikvideo, hin zum gespielten Witz: »Unser Kanal Comedy Central bietet ein breites Spektrum an Comedy, was auch die Zuschauer mit steigenden Marktanteilen honorieren. Wir kaufen derzeit für diese Sparte zusätzliches Programm ein, für das wir natürlich zusätzliches Geld locker machen. Ein größeres Budget hatte Comedy Central noch nie.« Im Dezember zeigt VIVA quasi als Grande Finale von montags bis samstags zwischen 12 und 13 Uhr eine Stunde lang die »größten Musikschätze« der vergangenen 25 Jahre. Pro Sendung geht es um ein Jahr, zum Auftakt steht 2018 an. Am 31. Dezember, dem letzten Tag von VIVA, laufen dann Lieder aus dem Gründungsjahr 1993 über die Bildschirme. Danach ist endgültig Schluss – im TV und auch für die Webseite viva.tv. Mit Youtube sowie unendlich vielen Möglichkeiten im Internet und am Smartphone hat das Konzept Musik-TV ausgedient. VIVA hat sich ausgeflimmert.