Ulrich Rasche inszeniert am Schauspielhaus Bochum Samuel Becketts modernen Klassiker »Warten auf Godot« – ein Gespräch.
Dreimal wurde Jesus von Petrus verleugnet. Dreimal hat der Apostel sein Leben über dessen Lehren und Überzeugungen gestellt. Ein Sündenfall, den er, der Fels, auf dem die christliche Kirche erbaut werden sollte, umgehend bereut und der dennoch Schule gemacht hat. Genau dreimal verkündet der Patriarch, der höchste Vertreter der Christen in Jerusalem, in »Nathan der Weise« seine Vorstellung christlichen Handelns: »Tut nichts! Der Jude wird verbrannt!« Auch das eine Verleugnung Jesu, ein Sündenfall, dem nicht die geringste Reue folgt. Im Gegenteil, über Jahrhunderte, bis hin zur Shoah und über sie hinaus, sind diese und andere Aufruhre zu Gewalt und Mord erklungen und gipfelten immer wieder in Akten der Zerstörung.
Diese Linie, die von den Worten des Patriarchen direkt zu Pogromen und zum Holocaust führt, hat Ulrich Rasche vor gut einem Jahr in seiner im Programm der Salzburger Festspiele gezeigten Inszenierung von Gotthold Ephraim Lessings Schauspiel nachgezeichnet. Der Patriarch, das war bei ihm kein einzelner Mann, sondern ein Chor von neun Frauen und Männern, die gemeinsam die Worte »Tut nichts! Der Jude wird verbrannt!« skandierte, einmal, zum zweiten und schließlich noch zum dritten Mal. Mit jedem dieser von Mordlust erfüllten Ausrufe wurde ihr Ton härter. Zugleich kam diese schwarz gekleidete Gruppe von Körpern, die sich wie ein Körper bewegten und auch so klangen, dem Publikum näher und näher. Spätestens beim dritten Ausruf erfüllte der Furor ihres Hasses den Raum.
Wichtigkeit der Chöre
Es war eine Szene, die einen im Innersten erschaudern ließ. Ein Moment, der sich einbrannte, den man nicht so einfach wieder abschütteln konnte. Aber auch ein Moment, der polarisierte und das Publikum in seinen Haltungen und Reaktionen spalten konnte. Insofern war es auch ein für Ulrich Rasche und sein Theater typischer Augenblick, einer, der ins Innerste seiner ganz eigenen Ästhetik führt. Chöre spielen in fast allen Arbeiten von ihm eine zentrale Rolle. Oft sind es wie bei »Nathan der Weise« Gruppen von jungen Männern, seltener auch Frauen, die zu einer Art von Mob verschmelzen.
Im Gespräch über die düsteren und bedrohlichen Aspekte seiner Chöre kommt der 1969 in Bochum geborene Regisseur schnell auf seine Inszenierung von Friedrich Schillers »Die Räuber« zu sprechen, die 2016 im September am Münchner Residenztheater Premiere hatte und 2017 zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde, dort aber nicht gezeigt werden konnte. »Ich glaube, das Theater kann die brutale Gewalt, die in ‚Die Räuber‘ von einer Gruppe Männer ausgeht, als einen körperlichen Vorgang verdeutlichen. Es kann zeigen, dass das Ganze letztlich in den Abgrund führt. Das ist eine Erfahrung, die helfen kann, auf Entwicklungen im realen Leben reagieren zu können.«
Diese Überzeugung, die zugleich auch eine Wette auf die Macht der Kunst und des Theaters ist, erfüllte nicht nur »Die Räuber«. Sie war ebenso die treibende Kraft hinter seiner Dresdener Inszenierung von Ágota Kristófs »Das große Heft«, seiner Annäherung an Georg Büchners »Leonce und Lena« am Deutschen Theater in Berlin und den von antisemitischen Haltungen geprägten Chorszenen in »Nathan der Weise«. Die teils schmerzliche, teils einfach überwältigende Konsequenz, mit der Rasche die Abgründe menschlichen Handelns und Denkens auf die Bühne bringt, besticht erst einmal durch ihre formale Brillanz. Seine Chöre skandieren ihre Texte nicht nur mit einer Präzision, die jeder einzelnen Silbe Bedeutung verleiht. Sie sind dazu auch noch ständig in Bewegung. Die Konstruktionen aus Laufbändern, früher bei Inszenierungen wie »Die Räuber« oder »Woyzeck« am Theater Basel, und aus oftmals mehreren, sich gegenläufig bewegenden Drehscheiben, die Rasches von ihm selbst entworfene Bühnenbauten und -Bilder prägen, erzeugen neben dem sprachlichen Rhythmus der Chorpassagen auch einen Bewegungsrhythmus. Die einzelnen Körper werden nicht nur ein gemeinsamer (Bühnen-)Körper. Sie akzentuieren durch ihre Schrittfolgen auch die Texte, verstärken Betonungen und forcieren Zuspitzungen.
Diese Art der Körper- und Sprechchoreografien ist zum Erkennungsmerkmal von Rasches Inszenierungen geworden. Aber sie sind weit mehr als nur eine Handschrift. In ihnen findet seine von 2500 Jahren Bühnen- und Dramengeschichte inspirierte Idee von Theater ihren stilistischen Ausdruck. »Die Katharsis ist ein wesentliches Argument für das Theater, und ich glaube nicht, dass wir uns das nehmen lassen sollten.« Mit diesem Bekenntnis präsentiert sich Rasche, der in Bochum Kunstgeschichte studierte, als Traditionalist, was ihn zu einem Außenseiter unter den Regisseur*innen macht, die im Moment die deutschsprachige Theaterlandschaft prägen.
Den gerade vorherrschenden künstlerischen Zeitgeist beobachtet Rasche zwar sehr genau. Aber in seinem Schaffen geht er konsequent seinen eigenen Weg. Die auf den ersten Blick so strenge Form seiner Arbeiten könnte in keinem größeren Kontrast zu den aufreizend lässigen Arbeiten eines Christopher Rüping oder einer Leonie Böhm stehen. Beide lassen ihren Schauspieler*innen beinahe grenzenlose Freiheiten und setzen damit jegliches Rollen-Spiel in Anführungszeichen.
Strenge Form
Im Gegensatz zu ihnen schafft Rasche einen klaren ästhetischen Rahmen. Bei ihm bewegt sich das Ensemble aufgrund der Bühnenmaschinerien, der von ihnen bestimmten Bewegungsabläufe ebenso wie aufgrund der Live-Musik und ausgeklügelten Behandlung der Sprache in festgezogenen Grenzen. Zugleich eröffnen gerade diese scheinbar starren Strukturen den Schauspieler*innen eine andere Freiheit. »Die Form gibt den Spielern die Möglichkeit, sich entfalten zu können«, erklärt Rasche seine Methode und verweist dann auf Bachs Kompositionen mit ihrem »starken Metrum« und auf ritualisiere »asiatische Theaterformen. In ihnen gibt es trotz des starken Reglements einen Ausdruck, in dem das Ich der Spielenden sichtbar wird.«
Am Schauspielhaus Bochum inszeniert Rasche mit »Warten auf Godot« nun erstmals ein Stück von Samuel Beckett. Denkt man an »Die Räuber« oder auch an seine Interpretationen antiker Klassiker wie »Ödipus« oder zuletzt am Münchner Residenztheater »Agamemnon« eine überraschende Wahl. Einen großen Chor wird es auf jeden Fall nicht geben, stattdessen vielleicht aber so etwas wie die Essenz seines Theaters. Er selbst sagt dazu: »In Beckett ist eigentlich alles vorhanden, was meinen Stil ausmacht, die rhythmische Gestaltung von Sprache, das Gehen auf der Stelle, das Warten und das Nicht-Davonkommen.«
In gewisser Weise gibt es sogar einen Bezug zum »Nathan«. Denn Rasche blickt mit der Interpretation von Pierre Tempkin auf das Stück. In seiner Wahrnehmung ist »Warten auf Godot« eine nur leicht verschlüsselte Darstellung der Judenverfolgung in Frankreich während des Zweiten Weltkrieges. »Diese Lesart hat es mir ermöglicht, mich dem ‚Godot‘ zu nähern, ihn politisch zu verstehen und einen Abgrund jenseits einer transzendentalen Idee inszenieren zu können.« Damit ist man wieder bei der Linie, die von Lessings Patriarchen zu dem großen Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts führt.
Nur eins war leider nicht möglich: Ursprünglich wollte Rasche seinen »Godot« mit der Choreografin Reinhild Hoffmann und ihren Tänzer*innen erarbeiten, die als stumme Figuren das Spiel des Ensembles begleiten sollten. So hätte er einen Bogen zurück zur Intendanz von Frank-Patrick Steckel geschlagen, während der Hoffmann mit ihrer Compagnie am Schauspielhaus war. Eine bewusste Verbeugung vor der Bochumer Theatergeschichte. Aber auf Druck von Becketts Erben hat der Verlag die Zusammenarbeit verboten. Auf der Bühne dürfen nur die vier, fünf von Beckett erschaffenen Figuren in Erscheinung treten.
6. September (Premiere), 7. und 8. September, 5., 6., 26. und 27. Oktober
im Schauspielhaus Bochum