Versonnen sitzt der Beulenmann auf dem Bahnhofs-Vordach und lässt die Beine baumeln. Völlig unberührt vom Kommen und Gehen, Eilen und Stehen unten auf dem Platz. Vielleicht träumt er von einer Fahrt ins Blaue. Doch daraus wird nichts. Denn für die nächsten Wochen muss die total verbeulte Figur, geschaffen von der Düsseldorfer Bildhauerin Paloma Varga Weisz, dort oben verharren. Als Aushängeschild jenes »Interdisziplinären Ausstellungsprojekts«, das sich der Künstler und Kurator Markus Ambach ausgedacht hat. »Von fremden Ländern in eigenen Städten« heißt die Veranstaltung. Anwohner sind einbezogen, Akteure aus Theater, Tanz, Film, und Musik machen mit. Vor allem aber sind 20 zum Teil recht renommierte Bildende Künstler vor Ort aktiv geworden.
Nahe liegt die schöne Erinnerung an Münster und seine Skulptur Projekte im letzten Jahr, wo man mit dem Rad umherkurvte, über historische Plätze und durch hübsche Grünanlagen von einem Kunsterlebnis zum nächsten. Als Besucher in Scharen am Brunnen standen und über Wasser liefen. Doch mit solchen oder ähnlichen Erwartungen sollte sich der Ausflug nach Düsseldorf nicht antreten lassen. Die Fahrradmiete kann sich der Kunstfreund sparen, denn die Arbeiten finden sich in einem überschaubaren Areal rund um den Bahnhof verteilt. Sattes Grün und historische Plätze? Keine Spur. Dafür Rotlichtatmosphäre, Fernbusbahnhof und architektonisch Fragwürdiges der 1980er-Jahre.
Beulenmann auf dem Vordach
Nur an wenigen Stellen möchte man länger verweilen. Schnell durch und weg heißt es auch vor dem Bahnhof, wo der Beulenmann auf dem Vordach träumt. In Münster wären die Skulptur-Touristen längst von den Rädern gesprungen, hätten Augen und Handys auf den Fremdling gerichtet und zugehört, was der Kunstführer dazu sagt. In Düsseldorf scheint kein Mensch Notiz zu nehmen von dem Gast und seinen Geschwüren. Auch das Ausstellungszentrum in einem verlassenen Lokal am Hintereingang des Bahnhofs ist an einem Samstag alles andere als ein Hotspot. Obwohl dem Gast allerhand Annehmlichkeiten geboten werden: eine Terrasse mit Sonnenstühlen und -schirmen, Kaltgetränke, üppig bepflanzte Blumenkübel, die ihn abschirmen vor Hunden, Bierflaschen und dem überhaupt nicht beschaulichen Treiben ringsum.
Ein Blick ins Innere des Zentrums würde ebenfalls lohnen, da hat die documenta-erprobte Österreicherin Ines Doujak sich eingerichtet mit ihrer verstörenden Modekollektion: Flammen züngeln auf dunklem Textil, Blusen werden zu Kettenhemden, überall stürzen nackte Menschen. Das Outfit wird zur Anklage – in diesem Fall zielt sie auf die »Neue Seidenstraße« als Handelsroute zwischen Ost und West, zwischen chinesischen Billigstproduzenten und der gedankenlosen Kundschaft im reichen Europa. Dazu passen Doujaks »Plünderer«, die zwischen Stoffbahnen und Kleiderstangen turnen. Die kindlichen Schaufensterpuppen scheinen zu strotzen vor krimineller Energie und machen Appetit auf mehr Kunst dieser Art.
Durch die Bahnhofsgegend
Sie aufzuspüren hilft eine dicke Zeitung, die im Ausstellungszentrum ausliegt. Der integrierte Kunst-Lageplan weist auch Unkundigen den Weg durch die Bahnhofsgegend – für Initiator Ambach »der letzte unerforschte urbane Raum der Stadt, der aktuell nach seiner Zukunft sucht«. Er selbst hat sein Atelier in der Nähe und das Quartier offenbar lieb gewonnen. Vor allem wegen seiner kulturellen Qualitäten, die allerdings oft im Verborgenen blühen. Die Kunst kann vielleicht helfen, jene schönen und spannenden Seiten zu entdecken und ins rechte Licht zu rücken.
Gerne hätte man Manuel Grafs Lichtinstallation am Bertha-von-Suttner-Platz bewundert, doch die leuchtet nur im Dunkel. Mit Projektionen orientalischer Ornamente soll sie den umliegenden Bauten und Bögen einen Hauch von »Tausendundeine Nacht« verleihen.
Dichter an der architektonischen Wirklichkeit bewegt sich Jan Hoeft auf einer befremdlichen Plakatwand, die unweit vor der grünen Wiese steht. Per Computer generierte Menschen sind zu sehen. Perfekte junge Leute, die sich durch eine unwirtliche Neubau-Kulisse bewegen, als wollten sie werben für das schöne neue Wohnareal. Man kennt solche Bilder aus dem Netz und aus Broschüren. Doch Hoeft steigert den sterilen Anstrich noch und bricht das fragwürdige Wohnideal, indem er seine Plakatwand mit kleinen Löchern durchsetzt, aus denen Wasser rieselt. Ist es Freude, die zu Tränen rührt? Wohl kaum.
Verborgene Schönheit
Da bleibt der Betrachter doch lieber auf dem Boden der Lebensrealitäten und versucht mit Ambach, die »verborgene Schönheit« des angrenzenden Viertels um Eisen-, Eller- und Vulkanstraße zu ergründen. Mitten auf das Dreiecksplätzchen lässt Andreas Siekmann eine Hebebühne in den Himmel wachsen und stellt ganz oben, unerreichbar, eine Batterie von Wahlkabinen ab. Der Migranten-Anteil ist in dieser Ecke Düsseldorfs höher als anderswo – ein Grund mehr für Siekmann, sein unmissverständliches Statement aufzustellen für ein Wahlrecht, das allen zuteil wird, die in Deutschland leben, arbeiten und Steuern zahlen.
Einer davon, Momodou Jallow, betreibt gegenüber seit Jahrzehnten seinen SB-Waschsalon mit Tropentapete und kommt bei Ambach als »Alltagskultureller Akteur« zu Ehren. Eine Reihe davon spielen mit bei dem Projekt. Sie betreiben Restaurants, Hamams, Haarsalons oder Tabakläden, arbeiten als Polizist oder bei der Bahnhofsmission. Der Kurator füllt große Sprechblasen und Seiten der Ausstellungszeitung mit seinen Überlegungen zu Menschen und Orten in dem Quartier, wo sich »ein letzter Moment urbanen Lebens in seiner ganzen Härte, Heterogenität und Schönheit« realisiere. Lesen ist eine Sache, Spazierengehen von einem Werk zum nächsten der bessere Weg, wenn es darum geht, die Gegend zuerst kennen und vielleicht sogar ein bisschen mehr schätzen zu lernen.
Pola Sieverding beim Box-Papst
Dazu lockt Pola Sieverding ins alte Rotlichtviertel. Erst kürzlich hat dort die urige Kneipe »Zum Box-Papst« dicht gemacht. Für Sieverding Anlass zurückzublicken: Ihr Film, der dort läuft, beleuchtet die im Verschwinden begriffene Subkultur entlang der Biografie von Wilfried Weiser – als »Box-Papst« eine Legende. Während also die Tochter hinter Kneipentüren werkelt, trumpft die Mutter mit dem bisher größten Kunstwerk ihrer Laufbahn auf: 200 Meter misst Katharina Sieverdings Bilderfolge. Genug, um die Fassade des ehemaligen Postgebäudes an der Worringer Straße von vorn bis hinten zu tapezieren. Manch ein Motiv aus Sieverdings Schaffen ist wiederzuerkennen und fügt sich im Fries zur vieldeutigen Zustandsbeschreibung aktueller politischer, ökonomischer, gesellschaftlicher Entwicklungen. Wem das nicht reicht, sich die Gegend schön zu malen, dem bleibt noch ein Ausweg: das Reisebüro »Sensotravelling« im gemeinsamen Foyer von Volkshochschule und Zentralbibliothek.
Am orangefarbenen Schalter organisiert das junge Künstlerduo Mira Mann und Sean Mullan eine Fahrt ins Blaue. Mit vertonten Gedichten oder Kurzgeschichten im Ohr lässt der Kunde Gedanken schweifen. Das Beste daran, für die Reise im Kopf braucht er sich nicht mal einen Schritt fortzubewegen aus Markus Ambachs »schönem« Bahnhofsviertel.
»VON FREMDEN LÄNDERN IN EIGENEN STÄDTEN«
BIS 19. AUGUST 2018.