TEXT: MICHAEL STRUCK-SCHLOEN
Eigentlich kann man von einer »Ausgrabung« im musikarchäologischen Sinn kaum sprechen, denn Wolfgang Fortners erste große Oper wurde nach der Uraufführung am 8. Juni 1957 durch den Dirigenten Günter Wand im neuerbauten Kölner Opernhaus (der Mitschnitt ist wieder im Handel) sofort nachgespielt. Noch zu Lebzeiten des Komponisten – er starb 1987 mit fast 80 Jahren in Heidelberg – avancierte »Bluthochzeit« zum »Klassiker des modernen Musiktheaters«.
Daran hatte nicht nur die grandiose Darstellung von Martha Mödl in der Rolle der Mutter Anteil, sondern auch der Stoff selbst. Federico García Lorcas »Bodas de sangre« von 1933 ist eine Tragödie aus dem Spanien des frühen 20. Jahrhunderts. Ein junger Mann will seine Kusine heiraten. Die aber ist in fataler Leidenschaft einem Heißsporn aus verfeindetem Clan verfallen. Die Mutter des Bräutigams, gewöhnt an Gewalt und Tod aus versteinerten Ehrbegriffen, sieht das Unheil heraufziehen; die Männer erdolchen einander, die Frauen bleiben allein – eingeschlossen in den kerkerartigen Mauern ihrer Häuser.
»Bluthochzeit« ist damit ein Werk, das den sozialen Appell an eine offenere Gesellschaft mit einer neuen Idee von Theater vereint, in dem Sprache, Musik und Tanz zur Einheit verschmelzen – einer Idee, die der Idee von Musiktheater nach dem Krieg nicht fern steht.
Christian von Götz, der Fortners »Bluthochzeit« im Rahmen einer »spanischen Spielzeit« am Wuppertaler Opernhaus inszeniert, vermutet in Fortners Wahl von Lorcas berühmtester Tragödie freilich noch weitere, höchst persönliche Gründe. Einerseits spielte wohl die Sympathie zwischen zwei homosexuellen Autoren eine Rolle: »Wie Lorca wusste Fortner um die erotische Isolation in der Gesellschaft, die am Ende der Bluthochzeit in der Isolation der Frauen ein Pendant hat«.
Andererseits suchte sich der Komponist mit »Bluthochzeit« wohl auch von der eigenen braunen Vergangenheit zu distanzieren, die erst peu à peu ans Licht kam.
Fortner, in seinen Leipziger Studienjahren ein Anhänger der Moderne um Schönberg und Hindemith, passte sich nach 1933 dem nationalsozialistischen Kulturbetrieb an und stellte am Tag des deutschen Überfalls auf Polen einen Antrag auf Aufnahme in die NSDAP. Nach Kriegsende wurde er als Mitläufer eingestuft, konnte weiterarbeiten und genoss als Kompositionslehrer in Heidelberg, Detmold und Freiburg einen exzellenten Ruf. Auch sein berühmtester Schüler Hans Werner Henze empfand ihn damals als einen menschlich und politisch integren Förderer der Moderne.
»Dieses Werk war für ihn der Versuch, diese Haltung auch künstlerisch zu dokumentieren, indem er das Drama eines dezidiert linken Autors vertonte«, sagt Christian von Götz. Zusammen mit dem Lorca-Übersetzer Enrique Beck hat Fortner die Tragödie weitgehend wörtlich vertont, womit er das »Zeitalter der Literaturoper« (Herbert Eimert) einläutete. »Ich glaube«, so formulierte es Fortner vor der Uraufführung programmatisch, »dass die Erneuerung des musikalischen Theaters nicht von der Oper ausgehen kann, sondern dass sie von einer Eroberung des Schauspiels durch die Musiker ausgehen muss«.
In diesem Sinn hat Fortner den Lorca-Stoff mit differenzierten Übergängen zwischen gesprochener Sprache und Gesang umgesetzt, hat diskrete Anklänge an spanische Folklore eingeflochten, ansonsten aber in einem expressiven Stil komponiert. »Vor allem die Orchester-Zwischenspiele«, so Götz, »klingen, als hätte Richard Strauss nicht den ›Rosenkavalier‹ komponiert, sondern seine radikalere Entwicklung bis zur ›Elektra‹ konsequent fortgesetzt«.
Welche Kraft Fortners expressionistische Moderne der 50er Jahre heute noch entfalten kann, dieses Experiment auszuloten, lohnt die Wuppertaler Wiederaufführung allemal.
»Bluthochzeit«, Oper Wuppertal, Premiere: 13. Januar 2013; Aufführungen: 18., 20. und 26. Januar sowie im Februar und März 2013. www.wuppertaler-buehnen.de