TEXT: ANDREAS WILINK
Es ist die nämliche Atmosphäre von Biedersinn und Bedrückung, von Wiederaufbaustolz, Verdrängung und versäumter psychischer Trümmer-Beseitigung, die auch Sönke Wortmanns »Das Wunder von Bern« nachzeichnet. Bei Wortmann geht es, ganz banal, um die Fußball-WM 1954, in Giulio Ricciarellis Film »Im Labyrinth des Schweigens« – wenige Jahre später – um die Enthüllung der Nazi-Verbrechen und die Vorbereitung der Frankfurter Auschwitz-Prozesse durch die hessische Staatsanwaltschaft.
Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, aus dem schwedischen Exil zurückgekehrt, Jude und homosexuell, macht es sich zur Aufgabe, von Deutschland »den Zuckerguss« abzukratzen. Dafür wird er geschmäht und bedroht. Er überträgt (hier wird Ricciarellis Drehbuch fiktiv) die Leitung der Untersuchungen dem jungen arglos blonden Johann Radmann, dessen Ehrgeiz in der Bearbeitung von Verkehrsdelikten ungestillt blieb. Zusammen werden sie Gerichtstag-halten über das eigene Volk. Wobei der Widersinn ist, kollektive Schuld individuell nachweisen zu müssen. Wo zeigt ein Fotodokument nachweislich eine bestimmte Person, wo belegt eine Unterschrift eine Mordtat, wo lässt sich jemand eindeutig durch einen Augenzeugen identifizieren?
Die Justiz mauert, ebenso Politik, Behörden, Polizei. Die Adenauer-Republik hat anderes im Sinn. Die Schutzmacht Amerika ebenfalls. Im Gericht haben Bauer und Radmann keine Sympathisanten, vor allem nicht Oberstaatsanwalt Friedberg (Robert Hunger-Bühler), während Kollege Haller (Johann von Bülow) sich angesichts der »Faktenlage« besinnt. Das Ausmaß der Mordmaschine Auschwitz ist ihnen unvorstellbar. Gab es aber diese Geschichts-Vergessenheit fünfzehn Jahre nach der militärischen und moralischen Kapitulation 1960 bei den Eliten tatsächlich so? Wurde denn alles weggetanzt in Polonaisen und runtergespült mit Bowle?
Die quälend selbstzerstörerische Frage der Opfer, heißt: Wieso lebe ich, wo andere sterben mussten? Die zentrale Frage an alle Beteiligten heißt: Kann man den Holocaust-Überlebenden als Zeugen zumuten, ihre Geschichte noch einmal zu durchleben und zu berichten fürs Protokoll? All das schwingt in jedem Moment dieses zunächst unbeholfenen Films mit, dessen schematischen Aufbau, Absichts-Dramaturgie, didaktischen Impuls und geringe Bildkraft man bald nachzusehen bereit ist. Weil der Stoff es lohnt – und dank der beiden herausragenden Protagonisten.
Radmann steht vor 600.000 Akten-Dossiers, um die 8.000 Auschwitz-SS-Angehörigen zu ermitteln. Und entwickelt einen Unschulds-Furor, dem Alexander Fehling bravourös Gesicht und Statur gibt. Faszinierend zu sehen, wie die Maske des aufstrebenden Karrieristen bröckelt angesichts der Lager-Berichte, die die Regie gewissermaßen stumm schaltet, so dass sie uns nur in den Mienen Radmanns und der Stenografin lesbar werden. Man ahnt, dass Radmann den Vergeltungs-Trieb, der sich besonders auf Josef Mengele richtet, nicht wird aus- und durchhalten können, aber ebenso, dass er nicht davon lassen kann, auch wenn er sich zwischendurch verführen lässt, Geld zu verdienen und eingekauft wird vom alt-neuen Establishment.
Bauer zügelt und lenkt den impulsiven Adlatus: als Großmeister, Großinquisitor ohne demagogische Züge, als brillanter Stratege. Das monstre sacré Gert Voss spielt in stählern gefasster Unerbittlichkeit, Skepsis, Klugheit, Einsamkeit und Illusionslosigkeit diesen Fritz Bauer, der Israels Regierung und Geheimdienst in seine Recherchen einweiht, um der Täter Eichmann und Mengele in Südamerika habhaft zu werden. Wir wissen, das eine gelang, das andere nicht.
Vielleicht sollte man den Film in Zusammenhang mit Christian Petzolds »Phönix« sehen, der im Abspann Fritz Bauer gewidmet ist: Bauer, der, wenn er von »Feindesland« sprach, alles außerhalb seines Büros meinte. Nur die öffentliche Rolle, so seine Erkenntnis, schützte ihn in Deutschland.
»Im Labyrinth des Schweigens«; Regie: Giulio Ricciarelli; Darsteller: Alexander Fehling, Gert Voss, Robert Hunger-Bühler, André Szymanski, Johann von Bülow, Friederike Becht; D 2014; 123 Min.; Start: 6. November 2014.