TEXT ULRICH DEUTER
Diese Zeilen, erschienen möglicherweise in der Rechtsrheinischen Post, geben Szenen der jüngsten Wochen in Düsseldorf wieder. Sie stehen jedoch für das Ereignis des Sommers 2016 im Land schlechthin: »Pokémon Go«. So lautet der Name eines Rollenspiels, das auf einem sogenannten Smart Phone (zu Deutsch: fescher Klang) ausgeübt wird und eine künstliche Welt mit der realen kombiniert. Blickt der Spieler durch die Kamera seines Bewegt-Fernsprechgeräts beispielsweise auf den Kölner Dom, so erblickt er auf seiner optischen Anzeige-Einheit nicht nur das hochgotische Bauwerk, sondern möglicherweise auch ein doppelköpfiges oder triefäugiges Fantasiewesen, das es zu fangen gilt.
»Pokémon Go« ist eine Weiterentwicklung der Mitte der 1990er Jahre bei Kindern sehr beliebten Sammelkarten- und »Gameboy«-Spielerei »Pokémon«. Weswegen dem neuen Hype (dt.: Schwindel) überwiegend Mittzwanziger verfallen sind, da sie an jenen Namen die süßesten Kindheitserinnerungen knüpfen. Etymologisch ist »Pokémon« eine Diffusion der englischen Wörter pocket und monster, »Pokémon Go« meint also soviel wie »Beutelscheusal, marsch«.So viel zum Hintergrund. Doch der medienerfahrene Zeitgenosse weiß: Nachrichten fallen vom News-Himmel wie Marmeladebrote vom Tisch: immer mit der wichtigen Seite nach unten. Dreht man sie um, zeigt sich der Belag derangiert, aber zum Glück oft nicht verloren. Wer geschickt ist, rekonstruiert. Wir rekonstruieren. Und begeben uns augenblicklich an die Hotspots (dt.: Hitzebunken) der Epidemie: den Marktplatz von Geldern, die Schlossgrabenbrücke in Leverkusen, den Bochumer Tippelsberg sowie, nicht zuletzt, das Grab von Dirk Bach auf dem Kölner Melatenfriedhof. Überall stehen, sitzen, hocken merkwürdig abwesend wirkende Menschen, den Kopf geneigt, die Schultern gerundet, die Hände zusammengeführt. Sie wirken wie tief ins Gebet Versunkene, die, plötzlich von der Gegenwart des Numinosen ergriffen, erregt und mit aufgerissenen Augen emporspringen. Wenig überraschenderweise hat sich die gewaltigste Versammlung dieser Selbstvergessenen vor und im Kölner Dom gebildet, aufs Jahr gerechnet sollen es sechs Millionen Menschen sein – wobei unklar ist, ob hier nicht der normale Tourismus eingerechnet wurde. Doch die Grenzen zwischen den Gruppen verschwimmen, die Kathedrale ist Hauptdestination asiatischer Europatouristenformationen, Bestimmungsort ost- und südeuropäischer Pilger sowie eine der bedeutenden Poké-»Arenen«, in die Spieler ihre stärksten Digitalmonster schicken, um sie in einer Art Armageddon gegen die anderer Spieler antreten zu lassen.Das Erzbistum bestreitet auf Nachfrage, dass dies eschatologische Fragen aufwirft. Zwar seien virtuelle Wesen wie Turtok, Pikachu, Bisaflor und die anderen Pokémon ebenfalls nicht-materiellen Charakters. Aber mit der geistigen Existenz und Anwesenheit der Heiligen, wie sie dito zu Dutzenden im Innern und an der Fassade der Kathedrale versammelt sind, nicht zu vergleichen. Doch klingt die episkopale Versicherung leicht verzagt; und dem Nebeneinander beider Symbolwelten – hier die farbenprächtige, bewegte und musikalisch unterlegte Nomenklatur und Historie der Pokémon, dort die farbenprächtige, unbewegte doch musikalisch oft hoch akzentuierte Nomenklatur und Historie der christlichen Heilslehre – in ein und demselben physisch-spirituellen Raum dürfte keine Dauer beschieden sein. Schon hat das Domkapitel Anstrengungen unternommen, damit der Pokémon-Hersteller Nintendo die Spielprogrammierung ändere und seine Götzen aus dem Gotteshaus entferne. Kirchenhistoriker erinnern sich an den jahrhundertelangen Kampf des Christentums gegen das heidnische Pantheon und seine Gebräuche; sie glauben den Ausgang auch dieser Auseinandersetzung zu kennen.