Da knallt das Grün. Ein Feuerwerk »fleckiger Farbigkeit« entfacht Walter Ophey 1912 in seinem Bild des Benrather Schlossparks. Zwei kleine Spaziergängerinnen gehen fast unter im explosiven Blattwerk. An der Wand vis-à-vis lässt Elfriede, alias Erich Thum, den Blick über den Luganer See gleiten. Von tief Türkis bis Dunkellila reicht die Palette und der Pinselstrich von flirrenden Tupfen im Wasser bis zu wilden Kringeln auf den Anhöhen. Zwei Hingucker zum Einstand im Kunstmuseum Ahlen. »Aufbruch« heißt es im Ausstellungstitel. Und schon im ersten Raum wird klar, welche Dynamik dahintersteckt.
In der Schau geht es um die Spanne zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und den 1930er Jahren. Eine Zeit, in der ungeheuer viel passiert ist, wohin man sieht. In der Kunst, wo sich die »Ismen« überschlugen. Ebenso in Technik, Gesellschaft, Wissenschaft. Freud und Einstein etwa sorgen für bahnbrechende Neuigkeiten. Das erste Auto fährt mit Benzin, und der Film bringt Bewegung ins Bild.
Wenn Ahlen nun mit 120 Werken aus der eigenen Sammlung über die künstlerischen Neuanfänge in jener energiegeladenen Epoche erzählt, dann scheinen die Geschichten etwas anders als gewohnt. Man hört wenig bekannte Namen, sieht selten gezeigte Bilder. Von Malerinnen, die Elfriede heißen, sich der besseren Karriere-Chancen wegen aber lieber Erich nennen. Und von Kollegen wie dem lange vergessenen Walter Ophey, der erst vor wenigen Jahren im Düsseldorfer Kunstpalast eine Wiederentdeckung feiern konnte. Neben dem Benrather Schlosspark beeindruckt in Ahlen etwa sein »Sandbruch«, der einen im golden-grünen Farbenrausch leicht die Orientierung verlieren lässt.
In der Ausstellung hat zwar auch die Prominenz ihren Platz: Emil Nolde mit farbtrunkenen Blumen etwa, Grafisches von Erich Heckel, eine wunderbar leicht hingestrichelte Landschaft von Renoir im dicken goldenen Rahmen. Doch die Stars spielen diesmal nicht die Hauptrolle. Sie sind eher Randfiguren im vielstimmigen Miteinander, das zeigt, was sonst noch passierte in der Szene. Man schaut auf unterschiedliche Nebenschauplätze, entdeckt Netzwerke. Zusammenhänge und Abhängigkeiten werden deutlich. Und der bekannte Kanon der Klassischen Moderne erweitert sich – zum Beispiel um bisher seltener gesehene Künstler*innen im Rheinland und in Westfalen.
Auge in Auge mit einer Kuh
Da stehen sie einträchtig auf einer Weide. In der Schau zeigt die Kopie eines alten Fotos die Schüler der Krefelder Kunstgewerbeschule im dunklen Anzug, den Skizzenblock in der Hand. Auge in Auge mit einer schwarzgefleckten Kuh, üben die jungen Herren das Zeichnen nach der Natur. Identifizieren kann man sie schlecht. Aber es könnten Künstler wie Heinrich Campendonk, Wilhelm Wieger oder Helmuth Macke sein. Alle drei haben in Krefeld studiert und profitiert von der Freiheit, die ihnen die Kunstgewerbeschule bot. In vielem deutlich fortschrittlicher als die ehrwürdigen Akademien gestaltete sich die Lehre hier – zum Beispiel im Anzug auf der Wiese. Oder auch in Rock und Bluse, denn bereits 1905 waren an der Schule Frauen zugelassen; an der Düsseldorfer Kunstakademie durften sie sich erst 16 Jahre später immatrikulieren. Vor dem Ersten Weltkrieg gehörte die Bildungseinrichtung in Krefeld gar zu den fortschrittlichsten ihrer Zeit. Dafür sorgte auch Johan Thorn Prikker als Professor. In seinem Werk bewegte er sich ungezwungen zwischen freier und angewandter Kunst. Und in seiner Lehre setzte er auf künstlerische Experimente, gern unter freiem Himmel. Vielleicht auch auf niederrheinischen Kuh-Wiesen.
Eine Handvoll Studenten gründete 1908 eine Art Atelier-WG in einem alten Bauernhaus, dessen Fassade Wilhelm Wieger mit gerade einmal 17 Jahren ins Bild setzt – impressionistisch getupft, doch erdig in den Farben und fast ohne räumliche Tiefe. Die Ausstellung zeigt eine kleine Wieger-Auswahl aus seinem großen Fundus. Immerhin bewahrt Ahlen die größte Museums-Sammlung des 1890 geborenen Malers – rund 80 Zeichnungen, Arbeiten auf Papier und Gemälde aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg belegen beispielhaft, wie die junge Generation damals die Errungenschaften der Avantgarde aufsog. Wieger zeigt sich besonders beeindruckt von Impressionismus und Neo-Impressionismus. Der Krefelder Künstler*innen-Nachwuchs hatte die französischen Vorreiter schon 1907 in einer großen Ausstellung im Kaiser Wilhelm Museum kennengelernt.
Die westfälischen Kollegen fanden dagegen reichlich Anschauungsmaterial in Hagen, wo sehr früh Karl Ernst Osthaus die Moderne heimisch machte in seinem Folkwang Museum. »Werke von Gauguin, Manet, Cézanne, Renoir, van Gogh stürmten auf mich ein. Es war ein Tag größter Offenbarung«, so beschreibt etwa Peter August Böckstiegel sein Erlebnis 1909 im Hagener Museum. 20 war der Bauernsohn aus Arrode damals und Student an der eben gegründeten, der Moderne aufgeschlossenen Handwerker- und Kunstgewerbeschule in Bielefeld. Wie durchschlagend vor allem van Goghs Vorbild auf Böckstiegel gewirkt hat, belegt in der Ahlener Ausstellung jetzt seine Landschaft »Nach dem Regen«. Fast sieht es aus, als sei er auferstanden: Vincent unter westfälischen Wolken.
Dass der »Aufbruch« der jungen Moderne im Kunstmuseum Ahlen sein eigenes Gesicht mit so vielen rheinisch-westfälischen Zügen ausprägt, könnte nicht zuletzt mit der außergewöhnlichen Geschichte des Instituts zu tun haben. Denn als das Museum 1993 gegründet wurde, gab es überhaupt noch keine Sammlung, die dort einziehen sollte. Zunächst einmal hatte der Ahlener Industrielle Theodor F. Leitfeld (1921-2005) die hübsche Gründerzeitvilla erworben, um sie vor dem Verfall zu bewahren. Dann erst fasste er den Museums-Plan. Die Sammlung ist also sehr jung und zu einer Zeit gewachsen, als die altbekannten Größen der Klassischen Moderne kaum zu haben waren – auch als Leihgaben.
Entdeckungsreise in der zweiten Reihe
Vielleicht begab man sich auch deshalb so gern auf Entdeckungsreise in der zweiten Reihe, erkundete wenig beackertes Terrain und organisierte viele, teils recht überraschende Ausstellungen, die Ankäufe, Schenkungen und Dauerleihgaben nach sich zogen und das Profil der Sammlung bis heute bestimmen. So widmete Ahlen sich in eigenen Ausstellungen etwa dem Luminismus in Holland, dem Schaffen junger Künstler*innen an der Krefelder Kunstgewerbeschule oder Helmuth Macke und seinen expressionistischen Künstlerfreunden. Ein großes Thema waren auch jene Maler*innen, die vor dem Ersten Weltkrieg an der Académie Matisse in Paris studiert hatten. William Straube zählt zu den interessanteren Beispielen und beeindruckt jetzt auch in der aktuellen Ausstellung – zum Beispiel mit einer fauvistisch gefärbten Landschaft, entstanden 1914, auf Straubes Reise nach Tunesien – von der man natürlich viel weniger gehört hat als von der berühmten Tunisreise, die August Macke, Paul Klee und Louis Moilliet im selben Jahr unternommen haben.
Wie schade, dass all diese Ahlener Stücke die meiste Zeit im Depot lagern. Und wie schön, dass man die hauseigene Sammlung jetzt zum Geburtstag einmal so ausführlich feiert. Nach dem »Aufbruch« im Frühling warten noch zwei weitere Ausstellungen aus dem Bestand. Die eine widmet sich im Sommer dem »Totalkünstler« Timm Ulrichs, der in Ahlen mit rund 70 Werken stark vertreten ist. Die dritte nimmt ab Herbst die Kunst ab 1945 in den Blick: Ein Schwerpunkt liegt hier auf konstruktiv-konkreten Werken. Und auf Arbeiten, für die das Licht wesentlich ist. Ein roter Faden, den Ahlen schon mit den impressionistisch inspirierten Gemälden der frühen Moderne aufgenommen hatte und bis in die Gegenwart verfolgt. Dafür stehen unter anderem fünf Skulpturen von Heinz Mack, die im Museumsgarten mit dem Licht spielen. Und natürlich auch jene spektakuläre Video-Projektion, die der Isländer Egill Saebjörnsson 2014 für den neuen Anbau entworfen hat: Immer, wenn es dunkel wird, strömt das Licht streifenweise, wie eine Kasskade, über das Tonnendach.
Zum Geburtstag gibt es aber nicht nur Ausstellungen in Ahlen. Zwischendurch kommt auch noch ein erster Sammlungskatalog heraus, in dem alle rund 1500 Werke aus dem Bestand erfasst sind – von Renoir bis in die Gegenwart. »Eine Momentaufnahme«, bemerkt Museumleiterin Martina Padberg. Denn natürlich geht es weiter mit dem Ausstellen und Sammeln. Vielleicht aber nicht mehr ganz so unbeschwert wie einst. Museen müssten immer mehr an Nachhaltigkeit und Ressourcenverbrauch denken, gleichzeitig würden zahlreiche private Sammlungen und Nachlässe in naher Zukunft eine museale Heimat suchen, so Padberg. »Es wird also darum gehen, aus der Fülle eine präzise Auswahl zu treffen, die als relevant für die eigene Sammlung und für die kommende Generation erkannt wird.«
Bis 11. Juni
Kunstmuseum Ahlen